Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sirenenlied

Sirenenlied

Titel: Sirenenlied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Heitmann
Vom Netzwerk:
mir«, glaubte Eileen eine singende Stimme zu hören, während ihre Atmung mit einem Mal so schwer ging, als lastete ein großer Druck auf ihren Lungen - wie in tiefen Gewässern.
    »Es ist sehr niedlich von dir, dass du meine Retterin spielen willst.« Es sollte vermutlich lässig klingen, aber der ernste Zug auf Joshs Gesicht verriet, dass ihm die Situation ausgesprochen nahe ging. Mit der freien Hand umfasste er ihr Kinn, damit sie seinem Blick nicht ausweichen konnte. »Ich befürchte nur, dass du dich damit ein wenig übernimmst. Überlass die Sache mir, schließlich zerbreche ich mir schon seit dem Verschwinden meines Vaters den Kopf darüber. Obwohl ich zugeben muss, dass ich dabei bislang keinen einzigen verfluchten Schritt weitergekommen bin. Eine Sirene zu fassen, scheint unmöglich. Die Sogkraft ihres Liedes ist zu stark, sie reißt jeden klaren Gedanken in
einen Strudel. Ich kann ihr nicht entkommen, aber ich kann mich auch nicht gegen sie stellen. Trotzdem werde ich es versuchen, verstehst du?«
    Eileen nickte, obwohl sich die Gedanken in ihrem Kopf überschlugen. Ja, sie verstand sehr wohl, dass Josh kurz davorstand, sich selbst zu verlieren. Das konnte sie entweder akzeptieren, wenn ihre Angst vor dem Abgrund, der sich auftat, zu groß war - oder sie konnte ihm einen Halt in diesem Sturm bieten.
    Auf jede einzelne Bewegung bedacht, näherte Eileen sich Joshs Mund, der auf so betörende Art geschwungen war. Sie wollte ihm nur einen ganz leichten Kuss aufdrücken. Das Versprechen, dass sie ihm beistehen würde, wenn die Flut kam. Doch in dem Moment als ihre Lippen seine berührten, füllte sich ihr Mund schlagartig mit eisigem Salzwasser, das ihre Kehle hinabrann und mit einem Brennen in die Nase schoss.
    »Er gehört mir«, erklang abermals die singende Stimme wie aus weiter Ferne.
    Panisch versuchte Eileen einzuatmen, doch anstelle von Luft war da nur Meerwasser. Sie ertrank!
    »Ich sagte doch, er ist mein.«
    Voller Verzweiflung öffnete Eileen den Mund, aber das Wasser lief nicht hinaus. Stattdessen wurde es immer mehr, drang immer tiefer in ihre Kehle. Druck entstand hinter ihren Schläfen, umhertanzende schwarze Flecken nahmen ihr die Sicht. Sie brauchte Luft, jetzt!
    Benommen taumelte Eileen zurück und ließ Joshs Hand los, als hätte sie sich an ihr verbrannt.
    Dann plötzlich, genauso unvermittelt wie das Wasser in ihren Mund eingedrungen war, verschwand es und ließ eine erschöpft nach Luft ringende Eileen zurück. Sie hörte,
wie Josh zu ihr sprach, sah, wie er nach ihr greifen wollte, doch sie wies ihn mit der Hand an, sich von ihr fernzuhalten. Auf keinen Fall wollte sie noch einmal in den Bann geraten, der ihn umgab.
    Fast wäre ich ertrunken, schoss es Eileen durch den Kopf. Einfach so, mitten auf dem Land.

6
    Hinter dem Blau
    Es ging bereits auf den späten Nachmittag zu, als Josh seine widerwillig röhrende Triumph die Steilklippe hochzwang. Immer wieder brachte der böige Wind sie aus dem Gleichgewicht, und einige der unfreiwilligen Schlenker wären beinahe schlecht ausgegangen. Doch Josh hielt sich - zum einen war er es gewohnt, gegen den stets herrschenden Wind anzufahren, zum anderen war er heute besonders motiviert.
    Kaum hatte er Finebirds Cottage erreicht, sprang er von der Maschine und lehnte sie kurzerhand gegen die Hauswand. Mit raschen Schritten eilte er ins Innere, wobei er sich nicht die Mühe machte, nach Finebird zu rufen. Der alte Mann war zweifelsohne schon auf seinem geheiligten Nachmittagsspaziergang unterwegs, außerdem ging es ihm sowieso nicht um einen freundschaftlichen Plausch.
    Während Josh das Blut in den Ohren dröhnte, lief er zwischen den aufgestellten Leinwänden umher wie ein Gefangener in einem blauen Labyrinth. Einige der Bilder
standen kurz vor der Vollendung, auf anderen waren nur ein paar Farbstriche aufgetragen. Nur das Bild, nach dem Josh suchte, jenes Bild, durch das die Sirene sich ihm genähert hatte, war nirgends zu finden. Mawhiney hatte es also bereits abgeholt, verflucht.
    Was sollte er jetzt tun? Ohne große Hoffnung stellte er sich vor eines der fast fertigen Gemälde, das einen unheilvollen Wasserwirbel zeigte, wie es sie unten an den Steilklippen gab. Dem Motiv haftete etwas Lebendiges an, als wolle das Meer einen verschlingen. Aber es verschlang Josh nicht, und es tauchte auch keine Silhouette am Grund auf.
    Josh streckte die Hand aus, und als er die klebrige Farbe berührte, musste er grinsen. Na, was hast du denn erwartet, du Irrer?

Weitere Kostenlose Bücher