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Sirenenlied

Sirenenlied

Titel: Sirenenlied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Heitmann
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dann nicht einfach einen Besuch auf der Insel ab?«
    »Wenn ich mich nicht irre, versuchen die Sirenen es ja, allerdings auf ihre Art und Weise. Oder warum glaubst du, sie sonst in einem meiner Bilder getroffen zu haben? Wir sprechen hier von Wesen, die von der Magie geküsst worden sind. Sirenen sind keine verträumten Meerjungfrauen mit einem malerischen Fischschwanz. Sie sind Teil von etwas sehr Altem, das wir Menschen bestenfalls instinktiv
begreifen. Die Sirene, die dich berührt hat, sehnt sich nach dir, aber sie denkt nicht in Kategorien wie Gut und Böse. Sie will dich in ihre Arme schließen, selbst wenn ihr dieses Glück nur für einige Minuten vergönnt ist.«
    Josh kroch die Wut glühend rot den Hals empor. »Ich will ja nicht unhöflich sein, aber wie können Sie ganz locker dasitzen und mir erzählen, dass eine Sirene nichts Schlechtes daran sieht, wenn ein Mann sein Leben für ein paar erfüllende Minuten lässt? Sollte das bei Ihnen nicht mit einem Tick mehr Verachtung für diese aus Eigensucht tötenden Kreaturen rüberkommen?«
    Anstelle einer Antwort legte Finebird den Kopf schief und schob nachdenklich seine Unterlippe vor. Dann erwiderte er Joshs herausfordernden Blick.
    »Nein, ich kann keine Verachtung und auch keine Wut für ein Wesen empfinden, das seiner Natur gehorcht. Vor allem, wenn es eine Natur ist, die ich mit meinem menschlichen Verstand nur leidlich begreife. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich die Meinung vertrete, jeder Mann, der den Sirenengesang vernimmt, soll sich augenblicklich ins Meer stürzen. Darum sitzen wir beide doch heute Abend auch hier beisammen, während draußen die ersten Vorboten der Frühjahrsstürme wüten. Wir wollen nach einem Weg suchen, damit dich der Sirenengesang nicht länger in Versuchung führen kann.«
    Mit einem Schlag fühlte sich Josh am Ende seiner Kräfte. »So einfach ist es leider nicht«, erklärte er mit leiser Stimme.
    »Nein? Warum nicht?«
    »Weil...«
    Josh stockte, während sich die Gedanken in seinem Kopf überschlugen. In den letzten Jahren hatte er sich damit
abgefunden, dass das Sirenenlied eine Vielzahl von Empfindungen in ihm hervorrief: Sehnsucht und Furcht. Aber auch eine ungestillte Rachsucht, die er noch in diesem Frühjahr zu befriedigen gedachte, auch wenn er dabei scheiterte und dies unleugbar einem nassem Tod gleichkäme.
    »Eigentlich«, begann Josh noch ein wenig unsicher, »sind es zwei Geschichten, die meine Haltung den Sirenen gegenüber alles andere als einfach machen. Die eine ist die meines Vaters, der seit einem der schlimmsten Frühjahrsstürme verschollen ist. Ich habe zwar keinen Beweis, aber ich glaube, dass er letztendlich dem Sirenengesang gefolgt ist, nachdem er ihm ein halbes Leben lang widerstanden hat. Wie gesagt, ich glaube das, denn obwohl ich nicht viele Erinnerungen an meinen Vater habe, so kann ich mich an eine gewisse Sehnsucht erinnern, die sein Wesen bestimmt hat. Diese Sehnsucht habe ich wiedererkannt, weil ich sie selbst seit meinem vierzehnten Lebensjahr verspüre. Das ist die andere Geschichte, von der ich sprach: die Geschichte, wie ich meine Sirene traf.«

7
    Gestohlene Küsse
    »Josh. Joshua Galbraith, bleibst du wohl stehen, wenn ich dich rufe?«
    Auf Enids Gesicht breiteten sich hektische Flecken aus, wie immer, wenn sie glaubte, dass ihr vierzehn Jahre alter Sohn sie aus lauter jugendlichem Übermut auflaufen lassen wollte. Für ihren Geschmack verweigerte er ihr in der letzten Zeit zu sehr den Gehorsam. Dabei wurde Josh zwar nicht frech oder gar laut, wie der schlaksige Cameron von Gegenüber, mit dem es zweifelsohne noch schlimm enden würde. Aber ihr Junge tat manchmal gerne so, als existiere sie in seinem Universum höchstens als blasse Randerscheinung. Enid wollte so ein Verhalten nicht tolerieren, schließlich hatte sie sich das viel zu lange von einem anderen Galbraith bieten lassen. Ihr verstorbener Mann Benjamin war ein Meister im Enid-Ignorieren gewesen. Allein die Erinnerung daran machte sie ein gutes Stück angriffslustiger.
    Enid stellte ihren Sohn vor der Haustür, deren Klinke er bereits in der Hand hielt. Er besaß die Unverschämtheit,
sich nicht einmal zu ihr umzudrehen. Wütend starrte sie auf seine in den letzten Monaten breit gewordenen Schultern und das wirr abstehende Haar, das im Dämmerlicht des Flurs wie dunkle Kastanien schimmerte. Genau wie bei Ben, schoss es ihr durch den Kopf.
    Obwohl Josh sie gut einen Kopf überragte, packte sie ihn fest im Nacken.

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