SISSI - Die Vampirjägerin
Meter entfernt, stand Leutnant Kraxmayer.
Es hätte so einfach sein können. Sissi hätte sich nur die Kapuze ihres Umhangs vom Kopf ziehen, ihn gebieterisch ansehen und ein paar Worte sagen müssen und er hätte sie vorbeigelassen, ohne auch nur eine Frage zu stellen. Sie hob sogar schon den Arm, um genau das zu tun, aber im gleichen Moment sagte Kraxmayer mit einer seltsamen Mischung aus Nervosität und Arroganz: »Niemand kommt an einem Gendarmen des Königs vorbei.«
Sissi ließ den Arm sinken. Es war, als habe jemand eine Weiche in ihrem Kopf umgestellt. Der Zug ihrer Gedanken sprang vom sicheren, geraden Hauptgleis auf ein kurviges, von Erdrutschen bedrohtes, krummes Nebengleis. Und der Lokführer fuhr mit verbundenen Augen.
Ich treibe diesen Vergleich mit dem Zug zu weit, dachte Sissi, als sie dem Hengst in die Flanken trat. Laut wiehernd machte das Pferd einen Satz. Seine Hufe gruben sich in den weichen Waldboden, sein Hals streckte sich.
Leutnant Kraxmayer wich zurück. Sissi sah, wie er nach etwas unter seinem Umhang griff.
Keine Pistole, dachte sie. Bloß keine Pistole!
Es war ein Degen.
Wild fuchtelte Kraxmayer damit herum, während er weiter zurückstolperte und »Alarm! Anarchisten!« schrie.
Rufe antworteten ihm aus dem Wald. Sissi hörte Pferde schnaufen und Äste brechen. Sie schluckte, doch die Weiche war gestellt, die Richtung eingeschlagen. Daran war nichts mehr zu ändern.
Tuti jagte auf Kraxmayer zu. Der nahm den Degen in beide Hände und richtete ihn auf die Brust des Tiers.
Will er etwa einem Pferd etwas antun? Sissi war entsetzt, als sie mit einem Mal die Tragweite ihrer Entscheidung erkannte. Aber Ausweichen konnte sie nicht mehr. Kraxmayer war weniger als zehn Schritte entfernt. Und so tat sie das Einzige, was sie tun konnte. Sie spornte Tuti zu noch größerer Geschwindigkeit an.
Kraxmayers Augen weiteten sich. Mit beiden Händen hielt er den Degen fest. Die Spitze zitterte. Er wich weiter zurück und dann stolperte er. Sissi sah nicht, worüber er fiel, aber mit einem Mal fiel er auf den Rücken. Der Degen ragte empor. Der Hengst sprang, ohne dass sie es ihm befohlen hätte. Sie sah Kraxmayers entsetztes Gesicht unter sich, spürte, wie die Klinge an ihrem Stiefel entlangkratzte, dann kamen die Hufe auch schon wieder auf dem Waldboden auf. Sie presste ihre Knie gegen den Leib des Hengstes und hielt sich an seinem Hals fest, um nicht abgeworfen zu werden. Hinter ihr brachen Pferde durch das Unterholz.
»Schnappt ihn euch!«, schrie Kraxmayer beinah hysterisch. »Holt euch den Anarchisten.«
Im gestreckten Galopp jagte Sissi den Weg entlang. Tuti war ein großer Hengst, nicht wendig, aber schnell. Die Gendarmen fluchten und schrien hinter ihr. Sie wurde rot. Manche der Worte, die sie ihr nachriefen, hatte sie noch nie gehört, andere hatte sie von ihrer Schwester kichernd und hinter vorgehaltener Hand gelernt.
Schließlich sah sie die Straße vor sich. Entgegen ihrem Plan bog sie nicht rechts nach Possenhofen ab, sondern lenkte Tuti nach links, tiefer in die Wälder hinein. Sie wagte es nicht, sich umzudrehen, hatte Angst, dass der Wind ihr die Kapuze aus dem Gesicht reißen und den Gendarmen enthüllen könnte, wen sie verfolgten.
Die Straße wurde schmaler und kurviger. Sissi wusste, dass sie zu einigen entlegenen Höfen führte und irgendwann im Nichts endete. Es gab kleinere Wege, die von ihr abzweigten. Sie schreckte davor zurück, in einen davon einzubiegen. Auf der Straße war ihr Hengst schneller als die kleineren Pferde der Gendarmen, aber im Wald würde ihm Geschwindigkeit weniger nutzen als Wendigkeit.
Der Abstand zwischen ihr und den Gendarmen wurde größer. Sie hörte es am Hufschlag und an der zunehmenden Wut in den Flüchen der Männer. Doch noch war sie nicht außer Sichtweite. In der sternenklaren Vollmondnacht konnte man fast so weit sehen wie bei Tag.
Als Sissi einen Weg links neben sich auftauchen sah, traf sie eine Entscheidung. Hart zog sie Tuti herum. Der schüttelte den Kopf, verweigerte aber nicht, sondern machte die abrupte Drehung mit und galoppierte in den Weg hinein.
»Er will zu Lennigers Hof!«, rief einer der Gendarmen hinter ihr.
Sissi beachtete ihn nicht. Der Weg war uneben. Die Räder der schweren Ochsenkarren, mit denen die Bauern ihre Ernten einbrachten, hatten tiefe Furchen in den Boden gegraben. Einige Male strauchelte Tuti, doch dann sah sie den Hof vor sich. Felder und Weiden begannen unmittelbar hinter dem gedrungen wirkenden
Weitere Kostenlose Bücher