SISSI - Die Vampirjägerin
Albtraum und starrte aus dem Fenster. Für die Besucher, die ihr Zimmer betraten – zuerst ihr Vater, dann Néné –, musste es so aussehen, als schmolle sie, doch in Wirklichkeit lauschte sie den Unterhaltungen der Kutscher auf dem Hof. Die Sommerresidenz des Kaisers, ein Schloss in der Nähe von Bad Ischl, lag zwar nur eine Tagesreise entfernt, doch keiner der Kutscher war je dort gewesen, also diskutierten sie über den besten Weg. Einige der Orte, von denen sie sprachen, kannte Sissi, andere waren ihr vollkommen fremd. Der Klang der unbekannten Namen reichte, um ihre Abenteuerlust zu wecken.
Sie versuchte, sich alle zu merken, sie in ihren Gedanken wie an einer Perlenschnur aufzureihen, sodass sie sich von einem Ort zum nächsten vorarbeiten konnte, bis sie Bad Ischl erreichte. Dort angekommen, würde sie das Quartier beziehen, das man für ihre Mutter und ihre Schwester vorbereitet hatte. Kein Bediensteter würde es wagen, eine Prinzessin abzuweisen, auch wenn sie den falschen Vornamen trug. Solange sie als Erste in Bad Ischl eintraf, konnte nichts schiefgehen. Ihre Mutter würde natürlich verärgert sein, ebenso Néné, doch Sissi glaubte nicht, dass man sie zurückschicken würde. Der Gesichtsverlust bei einer so ungehorsamen Tochter wäre einfach zu groß.
Bis zum Abend blieb Sissi in ihrem Zimmer und verließ es erst, als ihr Vater zum Essen rief. Sie verhielt sich trotzig, aß nichts und antwortete einsilbig, bis ihre Mutter die Geduld verlor und sie mit den Worten: »Wenn du dich nicht zusammenreißen kannst, musst du uns morgen früh auch nicht verabschieden«, wieder nach oben schickte. Nun würde man sie erst im Laufe des nächsten Vormittags vermissen, wenn sie nicht, wie sonst üblich, von ihrem morgendlichen Ausritt zurückkehrte.
Sissi setzte sich vor den Frisierspiegel und begann ihr langes braunes Haar zu kämmen. Sie hasste die Vampire, hasste alles, wofür sie standen, aber noch mehr als die Lügen, die Unterdrückung und die Morde hasste sie, was sie aus den Menschen machten, die ihnen zu nahe kamen. Die leeren Gesichter der Buben, die Scham in der Stimme ihrer Eltern, wenn sie von ihren Familien sprachen, die Erkenntnis, dass Néné niemals erwachsen und niemals alt werden würde – das alles nur wegen der Vampire.
Eines Tages werden wir sie aus dem Deutschen Bund, aus Österreich und aus Ungarn verjagen, so wie wir sie aus Frankreich und Amerika verjagt haben, dachte Sissi, als sie die Bürste zur Seite legte und mit schräg gelegtem Kopf der Stille im Treppenhaus lauschte. Alle schienen ins Bett gegangen zu sein. Kein einziges Geräusch drang zu ihr herauf.
Sie klemmte die Notiz, die sie für ihren Vater geschrieben hatte, an den Rahmen des Spiegels und stand auf. Die hohen Reiterstiefel, die sie bereits am Nachmittag zusammen mit ihrer restlichen Reisekleidung zurechtgelegt hatte, nahm sie in die Hand, den Rest trug sie bereits.
Sissi öffnete die Tür und lauschte in die Dunkelheit, aber nur das beständige Knarren und Seufzen des alten Anwesens war zu hören.
Der Weg zum Eingang war Sissi noch nie so lang erschienen. Als sie das Haus endlich verließ, atmete sie tief die kühle Nachtluft ein. Der Hof lag verlassen da. Von den Gendarmen, die den Besitz angeblich Tag und Nacht bewachten, war nichts zu sehen. Rasch schlüpfte Sissi in die Stiefel und lief zum Stall. Der Hengst ihres Vaters, Tutenchamun, schnaufte, als sie seine Box öffnete und ihm Sattel und Zaumzeug anlegte.
Die Knechte schliefen über dem Stall in mehreren kleinen Kammern. Einen von ihnen hörte sie durch das Gebälk schnarchen.
Tuti ließ sich bereitwillig aus dem Stall und auf den schmalen Weg dahinter führen. Seine Hufe hätten auf dem Kopfsteinpflaster des Hofs zu viel Lärm gemacht, also brachte Sissi ihn zu dem kleinen Waldstück, das zwischen den Gärten und der Straße lag. Erst als die Bäume sie vor Blicken aus dem Haus schützten, saß sie auf und ritt geduckt unter tief hängenden Ästen los.
Das Herz schlug ihr bis zum Hals, ihr Mund war trocken. Sie hatte es fast geschafft. Nur noch den Weg entlang, dann rechts die Straße hinunter in Richtung Possenhofen und …
»Halt! Wer da?«
Die Stimme rollte wie Donner durch die nächtliche Stille. Sissi zuckte zusammen und zügelte den Hengst, als sie eine Gestalt auf dem Weg auftauchen sah. Im Licht des Vollmonds blitzten Uniformknöpfe.
»Ich sagte: Halt, wer da? Bekomme ich eine Antwort?«
Sissi erkannte die Stimme wieder. Vor ihr, keine zehn
Weitere Kostenlose Bücher