SISSI - Die Vampirjägerin
Haupthaus. Kein Licht war zu sehen, nur ein Hund bellte, als sie näher kam.
Sissi spürte Tutis Erschöpfung. Trotzdem zwang sie ihn zum Sprung über den Zaun, der das Haus von dem großen Hopfenfeld dahinter trennte. An langen Holzstangen wuchsen die Pflanzen hoch in den Himmel. Als der Hengst zwischen ihnen aufkam, wurde es schlagartig dunkler. Die Blätter fingen das Mondlicht ab und ließen am Boden nur Dunkelheit zurück.
Sissi zügelte den Hengst. An seinen Hals gepresst, lenkte sie ihn an den Stangen vorbei. Die Erde war weich, seine Hufschläge konnte sie kaum hören. Nur sein schneller, schnaufender Atem würde den Verfolgern verraten, wo sie waren.
Die Gendarmen waren von ihren Pferden gestiegen und kletterten über den Zaun.
»Wos is ’n da los?« Es war die Stimme des Bauern, den Sissi flüchtig kannte. Im Dorf galt er als unangenehmer, übellauniger Einzelgänger.
»Geh zurück ins Haus«, sagte ein Gendarm. »Das ist eine Angelegenheit des Königs.«
»Zoiht der Herr König mia etwa den Hofer, den ihr mia kaputt trampelts?«
»Sei ruhig oder ich lass dich in den Kerker werfen.«
Sissi beachtete den Rest der Unterhaltung nicht. Solange die Gendarmen mit dem Bauern beschäftigt waren, folgten sie ihr nicht.
Sie stieg ab und führte Tuti durch das Feld. Die Reihen erschienen ihr endlos. Die Pflanzen standen so dicht, dass sie über ihr ein Dach bildeten. Sissi suchte nach Lücken zwischen ihnen und wechselte von einer Reihe zur nächsten, um die Gendarmen zu verwirren. Irgendwann wusste sie selbst nicht mehr, wo sie war.
Gut, dachte sie. Wenn ich es nicht weiß, wissen die es schon gar nicht.
Erst in diesem Moment bemerkte sie die Stille. Die Stimmen der Gendarmen waren nicht mehr zu hören, sie schien allein auf dem Feld zu sein. Wahrscheinlich versuchten sie wie Wölfe, ihre Beute einzukreisen. Vielleicht warteten sie aber auch auf Verstärkung. Sissi kümmerte das nicht. Sie war zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt. Ihr Vater hatte recht, sie war kindisch. Nur aus einer Laune heraus hatte sie einen Konflikt provoziert, der Tuti beinah das Leben gekostet hätte. Dass es nicht dazu gekommen war, hatte nichts mit ihren Fähigkeiten zu tun, sondern mit Glück.
Glück, das ihr immer noch treu zu bleiben schien, denn Sissi stand plötzlich am Rand des Felds und blickte auf die breite Straße dahinter. Kurz sah sie sich um, aber es war niemand zu sehen. Sie war allein.
Ihre Selbstzweifel verflogen. Sie schwang sich in den Sattel und strich über Tutis Hals. Sie wusste, dass die Straße hinter Possenhofen erst einen Bogen machte, bevor sie weiter nach Osten führte. Anscheinend war sie genau an dieser Stelle aus dem Feld gekommen.
»Dafür bekommst du allen Hafer, den du fressen kannst«, flüsterte Sissi dem Hengst ins Ohr. Dann trieb sie ihn behutsam vorwärts und spornte ihn zu einem leichten Trab an.
Im Mondlicht wirkte die Straße silbrig grau. Mit geradem Rücken und erhobenem Kopf ritt Sissi dahin.
Erst im Morgengrauen wurde ihr klar, dass es die falsche Straße war.
KAPITEL SECHS
Vampire leben in strikter Hierarchie. Wollte man einen Vergleich zwischen ihnen und den Kreaturen der natürlichen Ordnung ziehen, so käme ihr Umgang miteinander wohl dem in einem Wolfsrudel am nächsten. Es steht jedoch außer Frage, dass ein Wolfsrudel als höherwertig anzusehen ist, denn dort findet ein geschulter Beobachter Anzeichen für Mitgefühl und gegenseitigen Respekt.
– Die geheime Geschichte der Welt von MJB
»Ich habe die wilden Vampire nie verstanden«, sagte Pierre Roger, während er sich an einen Baumstamm lehnte und begann, die Rinde mit seinen langen, weiß lackierten Fingernägeln abzukratzen. »Wer würde freiwillig in einem Wald leben und Rehe jagen, wenn es Paläste voller Bediensteter gibt, die nur darauf warten, leer getrunken zu werden.«
»Kein Wunder, dass du das nicht verstehst.« Edgar verzog verächtlich die Mundwinkel. Er war ein großer, grobschlächtiger Vampir und intelligenter, als er aussah. »Man braucht Leidenschaft für die Jagd – und nicht nur für die neueste Mode aus Paris.«
»Ich bin doch hier, oder? Und was weißt du schon von Mode? Du siehst aus, als habe ein Schimpanse deine Garderobe ausgesucht.«
»Das ist Kleidung für Männer. Kein Wunder, dass sie dir nicht gefällt.«
Franz-Josef beteiligte sich nicht an der Unterhaltung. Er hätte alles getan, um der Enge der Sommerresidenz wenigstens für ein paar Stunden zu entfliehen. Sophies Bitte,
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