SISSI - Die Vampirjägerin
älter, vielleicht so alt wie die Sprache selbst. Sissi lief ein Schauer über den Rücken, wenn sie daran dachte.
»Fertig.«
Theodor riss sie aus ihren Gedanken. Sie öffnete die Augen und griff nach ihrer Gabel.
»Das hast du gut gemacht«, sagte sie. »Ich habe keinen einzigen Fehler gehört.«
»Was nur daran liegt«, mischte sich ihre Mutter ein, »dass du es auch noch nie fehlerfrei aufgesagt hast. Aber du hast es wirklich gut gemacht, Theodor, wenn auch nicht so gut, wie Sissi glaubt.«
»Danke, Mutter. Darf ich jetzt essen?«
»Soviel du willst.«
Sissi sah, wie Theodor begann, sein Brot zu schmieren. Die Worte ihrer Mutter taten ihr nicht weh, denn sie stimmten. Néné war das einzige Kind am Tisch, das nie einen Fehler machte, wenn es das Gebet aufsagen musste.
Sie griff nach dem Brotkorb und sah ihren Vater an. »Wann werden wir uns um den wilden Vampir kümmern?«, fragte sie.
Er stellte den Bierkrug ab, aus dem er gerade getrunken hatte, und unterdrückte einen Rülpser. »Ich habe noch nicht entschieden, ob wir uns überhaupt um ihn kümmern, wenn es ihn denn gibt.«
»Aber wir können ihn doch nicht weiter die Tiere umbringen lassen.« Néné verdrehte die Augen, aber Sissi beachtete sie nicht. »Es ist unsere Pflicht, etwas gegen ihn zu unternehmen.«
Max stützte das Kinn in seine Handfläche. Mit der Gabel zeichnete er Muster in den Fleischsalat auf seinem Teller. »Du vergisst, dass es auf unserem Land von Gendarmen nur so wimmelt«, sagte er. »Sie könnten uns mit Anarchisten verwechseln.«
»Aber das wäre doch eine gute Übung für uns.« Sissi ließ nicht locker. Sie sah ihm an, dass er nur nach Ausreden suchte, um ihre Mutter zufriedenzustellen. Sie saß am anderen Tischende und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Ungeduldig trommelte sie mit den Fingern auf ihren Oberarm.
»Wir könnten nicht bei Tag auf die Suche gehen«, fuhr ihr Vater fort. »Da gräbt sich der Vampir irgendwo ein und wir würden ihn nie finden. Also müsste es nachts sein, wenn er stark und wach und gefährlich ist.«
»Umso besser.« Sissi stützte ihre Ellbogen auf den Tisch und beugte sich vor. »Alles, was du uns beigebracht hast, wird …«
»Manieren, bitte!«, unterbrach ihre Mutter sie.
Sissi nahm die Ellbogen vom Tisch.
»Sissi hat recht«, sagte Néné unerwartet. »Wie sollen wir uns auf das Große Erwachen vorbereiten, wenn wir keine Gelegenheit bekommen, unsere Fähigkeiten auszuprobieren?«
Ihr Vater antwortete nicht, sondern sah seine Frau an. Sie schienen eine lautlose Unterhaltung zu führen, die mit seinem Nicken endete.
»Also gut«, sagte er. »Heute Nacht.«
Sissi grinste. Néné klatschte aufgeregt in die Hände und sprang auf. »Ich ziehe mich nur eben um, dann …«
Prinzessin Ludovika ließ sie nicht ausreden. »Nicht du, Néné, nur dein Vater und Sissi. Für dich ist das zu gefährlich.« Sie hob die Hand, als Néné widersprechen wollte. »Du bist zu etwas Höherem berufen als wir alle, das weißt du doch. Für dieses Privileg musst du Opfer bringen und dazu zählt auch, dass du nicht jeden x-beliebigen Vampir verfolgst und dein Leben riskierst.«
»Ich will aber nicht länger unter einer Käseglocke leben.« Néné verschränkte die Arme vor der Brust. Sissi hatte noch nie erlebt, dass sie sich gegen ihre Mutter auflehnte. »Ich will frei sein wie Sissi.«
»Das wird nie geschehen.« Prinzessin Ludovikas Stimme klang schneidend, fast schon brutal. »Und nun setz dich wieder und iss weiter.«
Néné zögerte. Erst als Sissi unauffällig an ihrem Rock zupfte, ließ sie sich auf ihren Stuhl fallen, die Arme weiterhin vor der Brust verschränkt. Ihre Lippen zitterten. Tränen standen in ihren Augen.
Ihre Mutter schien die harten Worte bereits zu bereuen, denn sie beugte sich vor und sagte sanfter: »Ihr dürft nie vergessen, dass ich euch beide mehr liebe als alles andere.«
Sissi sah, wie Theodor den Blick senkte. Die beiden anderen Buben spielten lustlos mit ihrem Essen, so als bekämen sie nichts von der Unterhaltung mit.
»Ich liebe euch beide gleichermaßen, aber ihr seid nicht gleich. Sissi kann Dinge, die du, Néné, nicht kannst und umgekehrt. Ihr müsst euch in dieses Schicksal fügen, sonst werdet ihr Unglück über euch und uns bringen. Versteht ihr das?«
»Ja, Mutter«, sagte Sissi.
Néné nickte einen Lidschlag später.
Schweigend aßen sie weiter, doch Sissi schmeckte es nicht. Ihr ganzes Leben hatte Néné gelernt, eine Dame zu sein, der
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