SISSI - Die Vampirjägerin
Ruhe.
Zufrieden trat Sissi einen Schritt zurück, streckte dem Hinterkopf des Gendarmen die Zunge heraus und ging weiter lautlos den Weg entlang. Nicht einmal der Rhythmus seines Atems veränderte sich. Er hatte sie nicht bemerkt.
Erst als der Weg einen kleinen Trampelpfad kreuzte, blieb Sissi stehen, um auf ihren Vater zu warten. Er würde einen Umweg gehen. Beweisen musste er nichts mehr. Trotzdem war sie überrascht, als sie plötzlich seinen Atem im Nacken spürte.
»Das war unnötig und dumm«, sagte er leise.
Sissi drehte sich um. »Es war unnötig und dumm, mich zu ihm zu schicken.«
Sie hätte es nie gewagt, in dieser Weise mit ihrer Mutter zu sprechen, aber zu ihrem Vater hatte sie ein innigeres Verhältnis, in dem sie sich beinah gleichberechtigt vorkam.
Er seufzte. »Deine Fähigkeiten einer Prüfung zu unterziehen, ist weder das eine noch das andere. Damit anzugeben, schon.«
Sie hob die Schultern, die einzige Antwort, die ihr darauf einfiel.
Ihr Vater nahm seinen Lederrucksack von den Schultern, schnürte ihn auf und zog eine unterarmlange quadratische Holzschatulle heraus. Es gab kein Schloss daran, nur eine Reihe ineinandergreifende Holzplättchen, die man über den Deckel der Schatulle schieben musste, bis sie ein kompliziertes Muster bildeten. Ihr Vater beherrschte es längst, ohne hinsehen zu müssen. Sissi dagegen fiel es immer noch so schwer wie das Gebet.
Ein leises Klicken ertönte.
Als Kind hatte Sissi geglaubt, das Ding, das im Innern der Schatulle lag, sei lebendig. Sie hatte ihm sogar einen Unterteller mit Milch hingestellt. Mittlerweile wusste sie, dass es nicht lebte. Nichts, was weder fraß noch trank, konnte lebendig sein. Nur was das Ding war, wusste sie nicht. Niemand wusste es. Aber es war ihnen allen klar, was es tat: Es fand Vampire.
Herzog Max klappte die Schatulle auf. Das Ding schmatzte und seufzte. Es hatte keinen Namen. Man nannte es nur das Ding .
Sissi wandte den Blick ab, als es sich zu entrollen begann. Manchmal glaubte sie, es sei ein Wurm, dann wieder wirkte es wie ein Oktopus mit ineinander verschlungenen grauen Tentakeln. Ihr wurde übel, wenn sie es zu lange ansah.
Auch ihr Vater wandte sich von der Schatulle ab, während er sie mit einer Hand von seinem Körper weghielt und sorgsam darauf achtete, das Ding darin nicht zu berühren.
Sissi glaubte, noch einmal die Ohrfeige zu spüren, die ihr Vater ihr versetzt hatte, als sie vor langer Zeit nach dem Ding gegriffen hatte. »Du fasst das nicht an!«, hatte er geschrien. »Fass es niemals an!« Es war die einzige Ohrfeige ihres Lebens gewesen. Vielleicht brannte sie deshalb immer noch.
Sissi folgte ihrem Vater den schmaler werdenden Pfad hinunter. Sie wusste, dass er ins Tal hinein und dann am Bachlauf entlang bis zur Quelle führte. Jäger benutzten ihn oft, um das Wild beim Trinken zu überraschen. Manchmal gelang es Sissi, ihnen zuvorzukommen und die Rehe und Böcke von der Quelle zu vertreiben. Ihr Vater wusste nichts davon. Es war ihr Geheimnis.
Herzog Max blieb so unerwartet stehen, dass Sissi beinah mit ihm zusammengeprallt wäre.
»Spürst du es?«, fragte er leise.
»Ja.« Es war, als säße man in einem Zimmer, dessen Fenster nicht ganz geschlossen waren. Ein unbestimmbares Ziehen im Nacken, eine leichte Brise, die ihren Blick nach rechts zog, immer wieder, selbst wenn sie versuchte, nicht hinzusehen.
Das Ding war fündig geworden.
»Also gibt es einen Vampir«, flüsterte Sissi. Das Brot vom Abendessen lag ihr plötzlich schwer im Magen wie ein Stein.
»Hier entlang.« Ihr Vater blieb auf dem Pfad, der nach rechts abknickte. Sie überließ ihm die Führung, versuchte nicht, die Zeichen selbst zu deuten. Es war leicht, sie zu spüren, doch sie zu verstehen, bedurfte jahrelanger Erfahrung.
»Wie weit entfernt ist er?«, fragte Sissi.
Ihr Vater antwortete, ohne sich umzudrehen. »Nicht weit.«
Sissi umklammerte den Griff ihrer Streitaxt so fest, dass ihre Knöchel schmerzten. Mit den Fingern der anderen tastete sie nach den drei Pflöcken in ihrem Gürtel. Die Waffen erschienen ihr auf einmal lächerlich, so als würde sie mit einer Armee aus Zinnsoldaten in den Krieg ziehen.
Wie konnte sie es wagen, sich einer jahrhundertealten Kreatur zu stellen, einem Wesen, das Kriege und Verfolgungen, Pestilenz und Hunger überstanden hatte und ihr so überlegen war wie … Vergeblich suchte sie nach einem Vergleich. Er war ein Vampir, sie ein fünfzehnjähriges Mädchen. Sie konnte nichts gegen ihn
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