SISSI - Die Vampirjägerin
ausrichten. Es war besser, die Axt fallen zu lassen und zu rennen, so lange zu rennen, bis sie das Anwesen erreichte und sich unter dem Bett verstecken konnte.
Sissi begann zu zittern.
»Er ist in deinem Kopf«, hörte sie ihren Vater durch einen Nebel aus Selbstzweifeln und Angst sagen. »Lass nicht zu, dass er mit dir spielt.«
»Woher weißt du das?«
»Weil er auch in meinem ist.« Die Stimme ihres Vaters klang angestrengt. »Er sagt mir, dass ich mich dafür schämen sollte, meine Tochter in den Tod zu schicken. Er ist recht … überzeugend.«
Sissi kämpfte gegen die Worte in ihrem Kopf. Sie waren so stark, so ehrlich wie ihre eigenen Gedanken.
»Mir kann er nichts anhaben«, sagte sie mit einer Leichtigkeit, die sie nicht spürte. Die Zweifel hämmerten auf sie ein.
»Hörst du?«, schrie sie, ohne es zu wollen. »Du kannst mir nichts anhaben. Deinen Kopf schlag ich dir ab! Du bist ein Nichts, du … du … widerlicher stinkender Anarchist!«
Ihre Worte hallten von den Bergen wider. Irgendwo schrie ein Nachtvogel. Ihr Vater drehte sich zu ihr um. Trotz der Dunkelheit glaubte Sissi zu sehen, wie er eine Augenbraue hob.
Sie zuckte mit den Schultern. »Er weiß doch sowieso, wo wir sind«, sagte sie.
»Jetzt weiß er es in jedem Fall.« Ihr Vater klappte die Schatulle zu.
Und dann hörte Sissi ihn – nicht mehr nur in ihren Gedanken, sondern im dichten Unterholz links von ihr. Äste knackten, Zweige brachen, ein Reh sprang auf den Weg und verschwand mit weiten, beinah schwerelos wirkenden Sätzen in der Dunkelheit.
Hinter ihm trat der Vampir aus den Sträuchern. Sissi stieg die Schamesröte ins Gesicht, als sie sah, dass er nackt war. Dreck und Tannennadeln bedeckten seine bleiche Haut. Sein Haar war lang, schmutzig und verfilzt. Noch nie in ihrem Leben hatte sie einen nackten Mann gesehen, noch nicht einmal die Buben hatte sie als Kleinkinder gebadet. Ihre Mutter hatte es vorgezogen, sie von »solch vulgären Dingen«, wie sie das nannte, fernzuhalten.
Der Vampir stemmte die Hände in die Hüften. Seine Fingernägel waren so lang, dass sie fast bis zu seinen Knien reichten.
»Gefällt dir, was du siehst?«, fragte er. Seine Stimme klang heiser und rau, als benutze er sie nur selten. Aus gelben Raubtieraugen musterte er Sissi. Sein Grinsen enthüllte scharfe, blutverkrustete Eckzähne. Herzog Max beachtete er nach einem kurzen Blick nicht weiter, als sei ihm klar, dass er nur die Tochter töten musste, um auch den Vater zu vernichten.
Sissi zwang sich zur Ruhe. Sie wusste nicht, was sie mehr verstörte, einem Vampir gegenüberzustehen oder einem nackten Mann.
»Haben Sie denn keinen Funken Anstand im Leib?«, fragte sie, so wie es ihre Mutter getan hätte. Das gab ihr Sicherheit. »Wie können Sie es wagen, eine Prinzessin zu duzen?«
Der Vampir blinzelte. Kurz sah er an sich herab, dann begann er zu lachen. »Es wird mir eine Freude sein, Ihr Blut zu trinken, Prinzessin.« Er stieß sich ab. Aus dem Stand sprang er höher und weiter als ein Rehbock. Dreck spritzte an Sissis Rock empor, als er keine Armeslänge von ihr entfernt mit beiden Füßen auf dem Boden landete und fauchte. Er roch nach Laub und Erde.
»Pass auf!«, schrie ihr Vater. Er ließ Rucksack und Schatulle fallen und zog zwei Krummschwerter aus dem Gürtel, während Sissi bereits mit ihrer Axt nach dem Vampir hieb.
Die Kreatur wich aus, trat einen Schritt zur Seite und schlug zu.
Sissi blockte seinen Arm mit dem Stiel ihrer Axt. Der Aufprall schmerzte so sehr, dass sie die Waffe beinah hätte fallen lassen. Doch sie hielt den Griff fest umklammert, holte über die Schulter aus und legte alle Kraft, die sie besaß, in den Schlag. Gleichzeitig stürmte ihr Vater von hinten auf den Vampir zu. Regen tropfte von den Klingen seiner Schwerter.
Sissis Axt wirbelte dem Kopf des Vampirs entgegen, doch im nächsten Moment war er verschwunden. Stattdessen sah sie das Gesicht ihres Vaters vor sich auftauchen. Seine Augen weiteten sich. Sissi ließ die Axt los. Die scharfe Klinge raste auf ihren Vater zu, drehte sich jedoch plötzlich in der Luft und traf ihn mit dem Stiel an der Stirn. Sie hörte den dumpfen Schlag und sein Stöhnen. Vom eigenen Schwung getragen, prallte ihr Vater gegen sie. Eines seiner Schwerter durchtrennte den Stoff ihres Umhangs, bevor sie zu Boden ging. Ihr Vater stürzte neben ihr in eine Pfütze. Sein zweites Schwert verfing sich zwischen zwei Wurzeln. Mit einem hohen, singenden Ton brach die Klinge
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