SISSI - Die Vampirjägerin
er.
Hinter ihm wurde das Stöhnen lauter, dann raschelte es.
Franz-Josef drehte sich um. Ein alter Mann mit einem mächtigen Backenbart schob die Vorhänge zur Seite. Blutspuren zogen sich über sein helles Hemd. Mit einer Hand stützte er einen zweiten, in bestickte Seidengewänder gehüllten schlitzäugigen Mann.
»Möchte noch jemand etwas von meinem Chinesen?«, fragte er. »Der Geschmack ist wirklich außerordentlich exotisch.«
Sophie erhob sich. »Nein, Ferdinand«, sagte sie erstaunlich sanft. »Im Moment möchte niemand etwas von deinem Chinesen. Vielleicht später als Nachtmahl.«
»Wie ihr wünscht.« Ferdinand beugte sich zu dem benommen wirkenden Mann hinunter und leckte Blutspritzer von seinem Hals. »Wirklich sehr exotisch.«
Für die Welt war Ferdinand Franz-Josefs Onkel, der aus gesundheitlichen Gründen abgedankt und ihm die Kaiserwürde übertragen hatte. Für einen kleinen Kreis von Eingeweihten jedoch war er einer der ältesten noch existierenden Vampire Europas – und ein Problem.
»Ist sein Kopf schon wieder gewachsen?«, flüsterte Karl.
Franz-Josef nickte. Ferdinands Kopf wirkte riesig auf seinem dünnen, geierartigen Hals. Er wuchs bereits seit Monaten.
Wir altern auch nicht gerade würdevoll, dachte Franz-Josef. Er spürte Sophies bohrenden Blick in seinem Rücken und drehte sich um.
»Und wen soll ich heiraten?«, fragte er resigniert.
KAPITEL DREI
Jahrhundertelang wurden die Kinder Echnatons nicht nur von Vampiren, sondern auch von den wenigen Menschen, die von ihrer Existenz erfuhren, belächelt. Cervantes widmete ihnen sogar die Gestalt des Don Quijote und ließ sie gegen Windmühlenflügel kämpfen. Doch seit der Französischen Revolution und der Befreiung Amerikas lächelt niemand mehr. Nicht der Tod regiert heutzutage in den Königshäusern Europas, sondern die Furcht. Und das ist gut so, denn schon bald werden auch sie fallen und dank der Kinder Echnatons wird im Schatten der Guillotinen eine neue Welt entstehen.
– Die geheime Geschichte der Welt von MJB
»Sissi!«
Sie hörte ihren Namen und sah von dem Beet auf, in dem sie Knoblauch geerntet hatte. Ihre Mutter flötete ihn geradezu, als sei er der Beginn eines Liedes, was bedeutete, dass sich entweder Dienerschaft in Hörweite aufhielt oder Besuch gekommen war.
Trotz der strahlenden Frühlingssonne wirkte das Haupthaus düster und seltsam traurig. Sissi hatte das schon als kleines Kind so empfunden, aber niemand schien ihr Gefühl zu teilen. Nach einer Weile hatte sie aufgehört, davon zu sprechen.
Ihre Mutter, Prinzessin Ludovika Wilhelmine, stand auf einem der Balkone im ersten Stock und winkte ihr zu. In dem Salon, der dahinter lag, wurden hauptsächlich unbekannte Besucher empfangen. Es war also tatsächlich jemand da.
»Kommst du einmal her, Kind?«, rief ihre Mutter.
»Ja, ich wasche mir nur die Hände.« Sissi stand auf. Ihre Beinmuskeln schmerzten. Das Training mit Herzog Max und ihren Geschwistern hatte sie wie immer an die Grenzen der Belastbarkeit geführt. Sie lief auf das Haus zu. Prinzessin Ludovika war eine hervorragende Lügnerin, sogar besser als Néné. Ihre Stimme verriet nicht, ob der Besuch Anlass zu Freude oder Sorge gab.
Sissi tauchte ihre Hände kurz in einen Bottich mit Regenwasser und wischte sie an ihrer Schürze trocken. Dann lief sie die Treppe zur offen stehenden Eingangstür hinauf. »Wer Türen schließt, hat in den Augen der Menschen etwas zu verbergen«, sagte ihr Vater stets. Im Schloss ging es eine weitere Treppe empor, dann betrat sie den Salon. Frau Hubers Tochter Agnes stellte gerade ein Tablett mit Tee und Gebäck auf dem kleinen Tisch in der Mitte des Raums ab. Dahinter saß ein uniformierter, schnauzbärtiger Mann mit buschigen Augenbrauen und Halbglatze. Er erhob sich, als er Sissi sah, und verneigte sich nervös.
»Grüß Gott, Prinzessin Elisabeth«, sagte er.
Auch ihre Mutter stand auf. »Sissi, das ist der Leutnant Kraxmayer von der Gendarmerie in Possenhofen.«
Sissi blieb im Türrahmen stehen und verschränkte die Hände vor ihrer Schürze. »Guten Tag«, erwiderte sie betont schüchtern.
Leutnant Kraxmayer trat einen Schritt auf sie zu. »Sie müssen sich keine Sorgen machen, Prinzessin. Ich möchte nichts von Ihnen.« Er errötete. »Also, natürlich möchte ich nichts von Ihnen. Das wäre ja geradezu ungeheuerlich … und wahrscheinlich verboten.« Er stutzte, als würden ihn seine eigenen Worte verwirren. »Was ich möchte, betrifft also nicht Sie,
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