Sister Sox
und bog am Thalkirchner Platz zum Isarkanal ein.
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Nur gut hundert Meter entfernt lag eine Privatklinik. Eine Chirurgie, so weit ich mich erinnerte. Ich habe früher mal als Sanitäter gearbeitet. Jedenfalls hatte die Klinik eine Notaufnahme und war daher genau das Richtige. Ich fuhr mit einiger Geschwindigkeit den überdachten Eingang an und hupte mehrmals. Der Pförtner kam aus seinem Häuschen herausgesprungen.
– Notfall, schrie ich. Eine Schusswunde am Kopf. Schnell, die Trage.
Der Pförtner schaute verständnislos auf meinen grauen Bus.
– Rotes Kreuz, Katastrophenschutz, sagte ich. Krieg ich jetzt endlich die Trage.
Er glotzte mich blöde an.
– Die Trage, aber flott, schrie ich.
Endlich rannte er hinein. Krankenhäuser sind wie jeder andere bürokratische Organismus in erster Linie auf Verteidigung ihres Status quo bedacht. Wer hinein oder wieder hinaus möchte, stört den Betrieb. Jeder möge bleiben, wo er ist, drinnen oder draußen. Um jemanden hinein zu bekommen, darf man keinen Zweifel aufkommen lassen, dass einelebensrettende Maßnahme ansteht. Sonst verhandeln sie zunächst auf der Basis von Name und Krankenkasse. Die eigenen Aktionen dürfen von keinerlei Bedenken getrübt sein. Dazu erteilt man am besten klare Befehle, so dass jeder weiß, was er zu tun hat.
Wer sich immer nur buchstabengetreu an die Vorschriften hält, manövriert sich ins Abseits. Regeln sollen das Überleben der bürokratischen Organisation sichern und sind nicht dazu da, es einem Einzelnen komfortabel zu machen. Ein Kollege aus meiner Zeit als Sanitäter hatte damals die Verlegung eines Patienten im Klinikviertel durchzuführen. Zweihundert Meter von der Nußbaumin die Ziemssenstraße. Unglücklicherweise verstarb der Patient auf dieser kurzen Strecke. Verdacht auf Herzinger , gab er bebend über Funk durch. Aber Hilfe oder gar Anweisungen bekam er nicht. Mein Kollege hatte sich in die Scheiße geritten. Einen Toten durfte die Empfängerklinik auf keinen Fall annehmen. Auch die Senderklinik wollte ihn nicht mehr, man hatte nachweislich einen Lebenden überwiesen. Der Kollege verhandelte, diskutierte und telefonierte. Niemand konnte ihm helfen. Eine Totenabladestelle existiert nicht in München. Also fuhr er erst mal zum Goetheplatz, um im McDonald’s Mittag zu machen. Beim Nachtisch, einer fettigen Apfelpastete, kam ihm die rettende Idee: Da, wo Vorschriften nicht mehr greifen, helfen nur noch die Beziehungen von Mensch zu Mensch weiter. Also suchte er aus dem Telefonbuch die Nummer der Frau heraus und sagte ihr, dass ihr Mann gestorben sei und er nun den Toten vorbeibringen müsse. Sie legten ihn ins Ehebett, und der Kollege gab der Witwe den Hinweis, dass für dieseFälle nun der Hausarzt zuständig sei, denn ohne Totenschein kriege sie ihn nicht aus der Wohnung.
Der Pförtner kam mit der fahrbaren Trage angelaufen. Ich hob Carmello aus dem Bus und legte ihn auf die Trage. Als wir ihn durchs Foyer schoben, kam eine Schwester herbei.
– Wo kommt der denn her?
– Gut, dass Sie da sind, sagte ich. Schädelverletzung, Verdacht auf Schusswunde.
Qualifiziertem medizinischem Personal gegenüber durfte man bei Einschätzungen einer Verletzung, die eine Diagnose vorwegnahmen, immer nur von Verdacht sprechen, selbst wenn ich mit eigenen Augen gesehen hatte, dass Carmello angeschossen worden war. Selbstherrliche Anmaßung von ärztlicher Autorität wird in einer Klinik sofort abgestraft.
– Der Patient ist nicht ansprechbar, wahrscheinlich ohnmächtig, ergänzte ich.
Ich hatte Glück. Die Schwester begann sich für ihn zu interessieren. Sie drehte Carmellos Kopf und besah den blutigen Striemen.
– Holen Sie mir Kompressen und verständigen Sie Dr. Ritzl.
Es war geschafft. Ein echter Sanitäter betrat das Foyer.
– Was ist mit dem grauen Bus da, fragte er.
– Moment, sagte ich, bin sofort weg.
Eine glückliche Fügung. Ich trat sofort den Rückzug an, lief nach draußen, sprang ins Führerhaus und fuhr los. Ein Problem weniger!
Nach Hause zurückzukehren, war undenkbar. Wahrscheinlich würden sie mich abpassen. Bei Prominenten läuftdas meistens so, dass sie in Panik den Unfallort verlassen, ihren Rausch ausschlafen und am nächsten Tag frisch gestriegelt mit einem psychologischen Gutachten auf dem Revier aufkreuzen. So ähnlich. Bis morgen, dachte ich, hätte ich noch Zeit. Also fuhr ich gleich ein Stück weiter zum Flaucher, parkte den Bus an der Schinderbrücke. Ich zerrte den Schlafsack heraus, der hinter
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