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Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)

Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)

Titel: Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Tobor
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dienten nun dazu, sie sich gegenseitig hinter den Kragen zu werfen. Um uns für das Unrecht zu bestrafen, das wir einander antaten, schickte Gott eine Läuseplage auf die Baracke herab, von der kein einziges Mädchen und kein einziger Junge verschont bleiben sollte.
    Der anstehende Besuch beim Kinderarzt stürzte vor allem Papa in Verzweiflung. Es war das erste Mal, dass er sich ohne Dolmetscher würde verständigen müssen. Die halbe Nacht hatte er im Fiat verbracht, dem einzigen Ort, wo er ungestört arbeiten konnte. Im Licht einer Taschenlampe studierte er sein Deutschbuch und schrieb sich wichtige Sätze heraus, die er dann so lange vor sich hin flüsterte, bis er nicht mehr wusste, was sie bedeuteten. Auch ich fürchtete mich. In Polen waren Arztbesuche eine häufige Ursache meiner vorgetäuschten Tode gewesen. Gegen jede erdenkliche Krankheit gab es nur Einläufe oder Spritzen. Ich konnte nur beten, dass es in Deutschland anders war.
    Die Praxis lag in einem mehrstöckigen, alten Haus, in dem eine samtschwere Atmosphäre herrschte. Es war die Art von Gebäude, in dem gealterte Operndiven Gesangsunterricht zu geben pflegen. Aber die Räume der Praxis waren hell und freundlich, und das Wartezimmer, in das die Sprechstundenhilfe uns geführt hatte, schien gar nicht auf die Grausamkeit einer ärztlichen Untersuchung vorbereiten zu wollen. Die Kinder waren mit Holzspielzeug und Bilderbüchern beschäftigt, als erwarte sie hier nichts Böses. Die Wand war mit friedlich gesinnten Zootieren behängt, die über Regenbogen rutschten. Der einzige Wandschmuck im Wartezimmer unseres polnischen Arztes war ein Plakat gewesen, auf dem der eiterfarbene Querschnitt eines Bandwurms zu sehen war.
    Nach drei Stunden des Wartens, in denen Patienten ein und aus gegangen waren, begann Papa, unruhig in seiner Herrenhandtasche zu nesteln.
    »Meinst du, sie haben uns vergessen?«, fragte ich.
    Papa zog einen Zehn-Mark-Schein aus seinem Portemonnaie.
    »Ja. Und ich glaube, ich weiß auch warum. Kommt mit.«
    Papa lehnte sich über die Rezeptionstheke und hielt der Sprechstundenhilfe den Zehn-Mark-Schein hin. Sie schüttelte sichtlich irritiert den Kopf. Papa versuchte es noch mal mit einer lockenden Geste, doch die Sprechstundenhilfe sah ihn nur entsetzt an und machte eine abwehrende Handbewegung. In diesem Moment war der Arzt aus dem Behandlungszimmer getreten, und Papa wedelte ihm flehend mit dem Zehn-Mark-Schein zu.
    »Pan jest z Polski?« , fragte der Arzt unerwartet. »Sie sind aus Polen?«
    Papa hatte vor Verlegenheit ganz rote Ohren.
    »Wie haben Sie mir das so schnell angesehen?«, stammelte er.
    »Der Zehn-Mark-Schein. Sie sind nicht der Erste in dieser Praxis, der glaubt, dass er uns bestechen muss, um dranzukommen«, erwiderte der Arzt lachend. »Aber ich versichere Ihnen, dass Sie nicht deswegen so lange warten mussten. Ich sehe eben nach … Sie sind Herr …?«
    Papa nannte unseren Namen.
    »Etwas Geduld noch. Sie kommen gleich dran.«
    Der Arzt war sehr nett. Er erzählte meinem Vater, dass er in den sechziger Jahren eine Deutsche geheiratet hatte und deshalb mit seiner Praxis nach Deutschland umgezogen war. Die medizinischen Verhältnisse in Polen kannte er nur aus Erzählungen. Er verschrieb uns ein Spezialshampoo und wünschte der ganzen Familie viel Erfolg.
    Gleich im Anschluss fuhren wir in die Apotheke. Beim Öffnen der Tür bimmelte eine ganze Traube von Glöckchen, aber es dauerte noch eine halbe Minute, bis die Apothekerin aus dem Dunkel der braunen Schubladenwände trat. Wortlos reichte Papa ihr das Rezept, und abermals verschwand sie für eine Weile, erst hinter den Schubladenwänden, dann unter der Verkaufstheke, wo sie verschiedene Sachen in eine Plastiktüte warf. Die gut gefüllte Tüte reichte sie Papa, der hilflos die Brauen runzelte. Es hatte doch nur eine Medizin auf dem Rezept gestanden? Papa zog sein Deutschbüchlein hervor. Doch die Apothekerin nickte uns bloß aufmunternd zu, wie um uns zu versichern, dass der geheimnisvolle Inhalt der Tüte wirklich keiner Bezahlung bedurfte.
    Erst im Auto wagte ich einen Blick hinein. Neben dem braunen Fläschchen mit dem Wundershampoo fand ich in der Tüte viele bunte Traubenzuckerpastillen, von denen jede einzeln verpackt war, zwei kleine Tüten mit Gummibärchen, ein Jo-jo, zwei Papiertröten, ein Seifenstück in der Form einer Schildkröte, Aufkleber, ein Kindermagazin und ein Tierposter zum Auffalten. Ich verstand die Welt nicht mehr. Wurde man in

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