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Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)

Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)

Titel: Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Tobor
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Kinder in meinem Alter gab es hier auch nicht. Aber das konnte sich ja schon bald ändern, ein paar Zimmer standen schließlich noch frei.
    Von nun an ging es uns gut. Dank der Kühlschränke in der Gemeinschaftsküche konnten wir endlich alle Joghurtsorten von Ananas bis Zitrone testen. Mama wurde es mit etwas Training im Supermarkt nicht mehr schwindlig, und bald ließ sie fertig abgepackte Wurst- und Käse-Packungen in den Einkaufswagen wirbeln, als hätte sie nie etwas anderes gekannt. Ihr Preisgedächtnis wurde so gut, dass sie gegen jede professionelle Kassiererin hätte antreten können.
    Mama kaufte alles nur aus dem Sonderangebot. Hatte sie die Wahl zwischen unbequemen Schuhen für zehn Mark und bequemen für zwölf, nahm sie die unbequemen und schrieb sich die gesparten zwei Mark als Schmerzensgeld gut.
    Spielzeug zu kaufen war für Mama tabu, ob es im Sonderangebot war oder nicht. In Deutschland waren Spielsachen so vollkommen, dass es keiner Fantasie mehr bedurfte. Darin sah sie keinen Sinn. Wenn ich mit Tomek »Schule« spielte, war ein Stück Pappe unsere Tafel und eine rohe Spaghetti der Zeigestock. Einmal bat ich meine Mutter, mir wenigstens einen Teddybären zu kaufen. »Wir müssen sparen«, gab sie zur Antwort. Zum Kuscheln bekam ich einen Teppichprobenkatalog. Durch die Spielwarenabteilungen der Warenhäuser schleppte ich mich wie ein Durstiger durch die Wüste. Wunderschöne Barbies glotzten mich vorwurfsvoll aus ihren Plastikgefängnissen heraus an. »Kauf mich! Bürste mich!«, flehten sie. Ich konnte sie nur mit dem einen Satz vertrösten, den ich auswendig kannte: »Ich habe kein Geld.«
    Doch eines Tages passierte etwas völlig Unerwartetes. Zwei rüstige Deutsche traten durch die Tür der Baracke. Sie behaupteten, von der Wohlfahrt zu sein, und schleppten große Kisten in den Gemeinschaftsraum. Daraus zogen sie allerlei Spielzeug hervor, das sie auf einem Tisch arrangierten. Die Kunde von ihrer wundersamen Ankunft verbreitete sich in Sekundenschnelle, und noch bevor sie mit dem Auspacken fertig waren, hatten sich alle Polen- und Russenkinder um den Gabentisch versammelt und bissen sich vor Aufregung die Fäustchen blutig.
    Auf dem Tisch sah es aus wie unter dem Weihnachtsbaum reicher Leute. Da waren Klötzchen mit Wackelaugen, entzückende Spieldosen zum Kurbeln und Aufziehen, Plüschraupen mit kleinen Klumpfüßen und Säckchen, die mit Glasmurmeln gefüllt waren. Doch meine ganze Unruhe konzentrierte sich auf ein meerblaues Gummipony und den Schönheitsstall, der zu ihm gehörte. Ich hätte meine Seele an den Teufel verkauft, um es zu besitzen. Mit geballter Gedankenkraft versuchte ich, das Pony hypnotisch an mich zu binden und den Schönheitsstall vor die Schwelle unseres Zimmers schweben zu lassen. Während ich mich mental so verausgabte, dass mir Schweißtropfen auf der Stirn standen, hatten sich die Kinder längst auf das Spielzeug gestürzt. Sie schnappten sich ganze Tüten voll Lego, fegten die kleinen Autos vom Tisch direkt in ihre Schürzen, klemmten sich »Karius und Baktus«-Bücher unter den Arm und Puzzles zwischen die Zähne, und ehe ich mich versah, waren auch mein Pony und sein Plastikstall verschwunden. Die Kinder hatten den Tisch bis aufs Letzte geplündert.
    »Warum habe ich nichts bekommen?«, weinte ich Mama später vor.
    »Wie erklärst du es dir denn?«, fragte sie zurück.
    »Ich habe gewartet, bis sie mir was geben.«
    »Und was haben die anderen Kinder anders gemacht? Schau es dir ab und mach es beim nächsten Mal genauso«, riet sie mir.
    Als zwei Wochen später dieselben Sozialarbeiter mit weiteren Ladungen Spielzeug kamen, riss ich alle fünf Tüten Lego, die sie dabeihatten, rücksichtslos an mich. Mit dem Triumph über meine Wohlerzogenheit hatte ich jedoch einen erbitterten Krieg losgetreten. Obwohl ich mich nach langen Verhandlungen dazu bereit erklärt hatte, einen Teil meiner Legosteine abzugeben, fanden Zwist und Zwietracht unter den Kindern kein Ende. Von diesem Tag an war niemand mehr zufrieden mit dem, was er hatte, und kein Kind gönnte etwas dem anderen. Selbst die regelmäßigen Besuche der Spielzeuglieferanten konnten die ungleichen Verhältnisse nicht tilgen. Je mehr Spielzeug sie brachten, desto gieriger und unersättlicher wurden die Kinder. Wir kratzten und beschimpften uns, schlugen uns die Spielsachen aus der Hand und zertraten sie vor den Augen der anderen.
    Die Regenwürmer, die man früher einträchtig aus dem Sandkasten genascht hatte,

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