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Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)

Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)

Titel: Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Tobor
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der schlimmste Dummkopf und Grobian, der mir je begegnet war. Auf die Rechenaufgaben konnte ich mich nicht konzentrieren. Obwohl Frau Stubenrecht so nett zu mir gewesen war und Fatma mich immerzu anlächelte, kreisten meine Gedanken nur um Dominik und Ewa, die mir deutlich gezeigt hatten, wie wenig sie von mir hielten. Warum wollte Ewa Kowalski nicht meine Freundin sein? Warum war sie so stolz auf ein Pullunder-Krokodil, das wie eine zertretene Wäscheklammer aussah? Und dieser Dominik? Würde er mich jetzt jeden Tag schikanieren? Was hatte ich bloß an mir, das beide so wütend machte?
    Als ich das Schulgebäude verließ, war der Nebel abgezogen, und hinter dem dünnen Wolkenschleier wartete eine stumpfe Herbstsonne auf mich. Ich lief um das Schulgebäude herum, um wieder die Abkürzung durch den Park nehmen zu können.
    »Ey!«, hörte ich jemanden hinter mir rufen. Die Stimme gehörte Dominik, dem grobschlächtigen Rabauken. Ich wollte mich gerade an die Schlaufen meines Ranzens klemmen und um mein Leben rennen, da hatte er mich schon eingeholt und riss mich am Arm herum. In seiner ausgestreckten Hand lag mein Mars-Riegel.
    »Ich habe auch kein Geld«, sagte er, als er ihn mir zerdrückt und zerknautscht wiedergab. Dann drehte er sich einfach um und rannte weg.

16.
Der, die, das
    » Podkoszulek! «, sagte Mama und klappte das Lehrbuch zu, zwei Finger zwischen den Seiten.
    »Unterhemd!«, gab Papa blitzschnell zur Antwort.
    Wie jeden Nachmittag nach dem Essen saßen meine Eltern wippend auf dem Bett und fragten einander Vokabeln ab.
    »Der, die oder das?«
    » Das Unterhemd.«
    »Richtig«, nickte Mama. »Das kann ich mir merken, aber wie kann es sein, dass es die Hose heißt und der Rock, wenn das eine von Männern getragen wird und das andere von Frauen? Total unlogisch!«
    Papa lächelte. »Daher auch die schlesische Klage: Gäbe es kein Der-die-das, wären wir ganze Deutsche.«
    Ich horchte auf. Ganze Deutsche? Wir?
    »Warum kann Oma eigentlich Deutsch?«, fragte ich und dachte daran, wie Oma ständig ihre brele verlegte oder ein fojercojg suchte, wie sie mir bratkartofle oder eine klapsznita machte und wie sie rajzyfiber bekam, bevor sie in die ajzynbana stieg. Alles Wörter, die ich schon immer verstanden hatte, ohne zu wissen, dass sie deutschen Ursprungs waren.
    »Oma hat als Dienstmädchen bei einer deutschen Familie gearbeitet«, erzählte Mama.
    »Und was ist mit den anderen alten Leuten aus Polen, die Deutsch können?«, fragte ich. »Haben die da auch alle gearbeitet?«
    »Manche haben für Deutsche gearbeitet, andere für Polen. Aber alle, die im Krieg in deinem Alter waren, mussten in eine deutsche Schule gehen. Oma Greta ist auch in eine deutsche Schule gegangen. Deswegen kann sie auch ›Fuchs, du hast die Gans gestohlen‹ und ›Hänschen klein‹ singen.«
    »Aber wenn eure Eltern Deutsch konnten, warum könnt ihr es dann nicht?«, wunderte ich mich.
    »Nach dem Krieg war es in Polen verboten, deutsch zu sprechen«, erklärte Papa. »So wie während des Krieges Polnisch verboten war.«
    »Polnisch war verboten? Warum?«
    Mama und Papa tauschten einen zögerlichen Blick aus.
    »Das lernst du noch in der Schule«, sagte Mama, bevor sie wieder im Deutsch-Lehrbuch zu blättern begann.
    Meine Eltern besuchten vormittags einen Sprachkurs. Nachmittags prägten sie sich Vokabeln ein. Und abends kam eine Ehrenamtliche in die Baracke, um die Aussiedler im Gemeinschaftsraum lehrreich vollzuquatschen. Sie hieß Frau Miesinger-Rathgeb und stand allabendlich pünktlich um sechs auf der Matte, obwohl niemand sie herbestellt hatte. Wer sich mit »Kann ich Sprache schon!« vor ihrer Wohltätigkeit drücken wollte, den köderte sie mit entwaffnendem Enthusiasmus und Erfrischungsstäbchen. Der Lehrplan von Frau Miesinger-Rathgeb bestand aus absurden Lektionen, in denen meine Eltern Sätze wie »Ein Neger mit Gazelle zagt im Regen nie« auswendig lernen mussten. Zur Belohnung verriet die Lehrerin, dass der Satz von vorn und von hinten gelesen werden konnte. Ein anderes Mal mussten sich ihre Lehrgefangenen merken, dass Milch müde Männer munter macht und Fischers Fritz frische Fische fischt. Bald hatte sich der Gemeinschaftsraum in ein richtiges Klassenzimmer verwandelt, in dem Erwachsene wie Schüler vor sich hin dämmerten und einander Briefchen auf die Rückseiten von Kassenzetteln schrieben. Viele gingen während des Unterrichts auf die Toilette, um auf mysteriöse Weise in den Röhren der Kanalisation zu

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