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Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)

Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)

Titel: Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Tobor
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willkürlich einer der wogenden Kindergruppen, nur um mich im letzten Moment umzudrehen und eine andere anzusteuern. Wieder und wieder verließ mich der Mut. Ich überlegte, was passieren würde, wenn ich einfach kehrtmachen und zur Baracke zurückrennen würde. Da hörte ich wie aus einer anderen Wirklichkeit jemanden meinen Namen rufen.
    »Alexandra?« Reflexartig streckte ich den Zeigefinger am angewinkelten Ärmchen nach oben. Wenn ich doch nur wüsste, wie man »anwesend!« auf Deutsch sagte. Eine große, hagere Frau kam auf mich zu. Wahrscheinlich war sie eine Lehrerin. »Alexandra?«, fragte sie abermals. Ich nickte stumm. Sie nahm mich an der Hand und führte mich zu einer Kindergruppe, die in Paaren aufgereiht vor dem Eingang des Gebäudes stand. Just in diesem Moment erklang ein Gong, drei harmonische Töne, und die Kinder setzten sich in Bewegung. Ich ging mit der Lehrerin, die immer noch meine Hand festhielt, vorneweg.
    Von innen sah das Schulgebäude aus wie ein riesiger Kindergarten. Im Treppenhaus, dem die Kühle öffentlicher Einrichtungen fehlte, hingen keine SchwarzWeiß-Porträts bedeutender Staatsmänner, sondern farbenfrohe Collagen. Ich konnte den Blick nicht von den riesigen Sombreros auf den Fluren lösen, die hier offenbar als Sitzgelegenheit dienten. An der Hand der Lehrerin fühlte ich mich sicher. Als wir die Treppe erklommen, blickte ich nach unten, um mir die Gesichter der anderen Kinder anzusehen. Ich erschrak, als mir bewusst wurde, dass zwei Mädchen mich direkt anstarrten. Sie flüsterten und kicherten und musterten mich von oben bis unten. Obwohl ich nicht verstand, was sie zueinander sagten, wusste ich, dass ihr Getuschel irgendwas damit zu tun haben musste, wie ich gekleidet war. Erst jetzt fiel mir auf, wie anders ich aussah mit der großen steifen Schleife auf dem Kopf und den tristen Farben meines Pullovers. In Polen hatte ich mich nie darum sorgen müssen, ob meine Kleidungsstücke zusammenpassten oder nicht. Wichtig war nur, dass die Schulkittel immer sauber und gebügelt waren. Auf den letzten Metern zum Klassenraum starrte ich befangen auf meine Eichhörnchen-Schuhe, deren leuchtendes Rot innerhalb von Minuten verblasst war.
    Die Lehrerin ließ meine Hand erst in der Klasse los. Ich sah mich um. Aus großen Postern schauten mich selbstbewusste Tiere an. Ein Schimpanse auf der Toilette, mit heruntergelassenen Hosen, ein Dackel mit Sonnenbrille, der an einer Eistüte leckte, und ein Löwe, der keine Anstalten machte, sich beim Gähnen die Pfote vors Maul zu halten. Die Tafel, die im Klassenzimmer hing, war beweglich und ließ sich aufklappen wie ein Altarbild. Es waren Kästchen und Linien draufgemalt. Auf der langen Fensterbank entdeckte ich viele unförmige und schlampig bemalte Salzteigwürste. Weil ich nicht wusste, wo ich mich hinsetzen sollte, hielt ich nach einem freundlichen Gesicht Ausschau. Ein Mädchen lächelte mich warm an. Mit ihrem unter dem Kinn zusammengeknoteten Kopftuch sah sie aus wie eine alte Oma vom Bauernhof. Ihre modischen Ansichten mochten etwas verrückt sein, aber ich war erleichtert und froh, als ich bemerkte, dass den Platz neben ihr noch niemand besetzt hatte. Ich lächelte dankbar zurück und setzte mich zu ihr, durchgestreckt wie ein Soldat, die Hände flach auf dem Tisch, wie man es mir in Polen beigebracht hatte, und spürte sogleich Blicke im Rücken, die nach einer Erklärung verlangten. Nachdem alle ihre Plätze eingenommen hatten, machte die Lehrerin sich daran, die Anwesenheit zu überprüfen. Ich merkte auf, als ich sie nach »Kowalski« fragen hörte. Kowalski war ein polnischer Name, und ich hatte nicht mitbekommen, wer die Hand gehoben hatte. Meine Sitznachbarin war es jedenfalls nicht, und außer uns beiden wirkte hier niemand falsch angezogen. Wenn es in meiner Klasse wirklich noch jemanden aus Polen gab, war ich gerettet. Zumindest eine Freundschaft wäre mir sicher.
    Meinen eigenen Namen hatte die Lehrerin nicht vorgelesen. Stattdessen winkte sie mich zu sich, richtete meinen Kopf zur Klasse und legte mir die Hände auf die Schultern. Von hier konnte ich endlich alle Kinder sehen. Spätestens jetzt hatte jeder bemerkt, dass eine Neue in der Klasse war, zudem eine, die aussah, als wäre sie aus einem Ufo gefallen. Über zwanzig aufgesperrten Mündern starrten mich vierzig große, seltsame Augen an.
    »Guten Morgen, Kinder. Das ist Alexandra«, sagte die Lehrerin freundlich, laut und besonders deutlich. »Alexandra kommt aus

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