Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)
beendete, knüllte Dominik sein Blatt zusammen und warf es im hohen Bogen Richtung Mülleimer. Er traf nicht, und das Bällchen purzelte unter die Tafel. Ohne seinen Müll aufzuheben, stürmte er als Erster aus der Klasse, und ich hörte nur noch seine Turnschuhe hastig über den gebohnerten Boden quietschen. Beim Zusammenpacken ließ ich mir viel Zeit, damit ich ihm draußen nicht über den Weg lief. Im Rausgehen hob ich das Papierbällchen auf, um es in den Mülleimer zu werfen, aber dann hielt ich inne. Der Zettel gehörte auch mir, und ich schmiss nie ein Arbeitsblatt weg. Also stopfte ich mir das Bällchen in die Jackentasche und huschte nach Hause.
Als ich dort den Papierball auseinanderfaltete, entdeckte ich, dass die gesamte Rückseite mit Zeichnungen bedeckt war. Ein Baum mit ausladender Krone und fein ausgearbeiteten Ästen, ein fliegendes Auto und eine naturgetreue Fledermaus. Dominik mochte ein unmöglicher Mensch sein, aber ich musste zugeben, dass er wirklich gut zeichnen konnte. Ich strich das Blatt mit beiden Händen glatt und presste es vorerst zwischen die Seiten meiner Fibel.
Eines Tages ereignete sich im Gemeinschaftsraum der Baracke eine unerhörte Begebenheit. Frau Miesinger-Rathgeb war am späten Nachmittag eingetroffen, um ihren eigenwilligen Deutschunterricht zu erteilen. Ausnahmsweise hatte sie ihren Sohn dabei, ein Kleinkind, das sie in der Baracke frei herumlaufen ließ. Meine Mutter hatte an diesem Tag einen Schokoladenkuchen gebacken. Sie stand noch in der Küche, als das Kind mit offenen Armen auf sie zurannte. Mama gab ihm ein Stück vom Schokoladenkuchen und betrat, das Kind auf dem Arm schaukelnd, den Gemeinschaftsraum, wo Frau Miesinger-Rathgeb ihre Schüler erwartete. Nachdem Mama das Kind abgesetzt hatte, blickte sie wohlwollend auf sein schokoladenverschmiertes Mäulchen. Um sich selbst und der Frau zu beweisen, wie gut es dem Kleinen schmeckte, ging Mama in die Hocke, klopfte sich mehrmals auf den Bauch und sagte: »A-A! Jaaaa, A-A schmeckt gut!«
Frau Miesinger-Rathgeb starrte meine Mutter entgeistert an, bevor sie sich ihr Kind schnappte und ohne eine Erklärung aus der Baracke stürmte. Sie ließ Mama in großer Verwirrung zurück.
»Was habe ich getan?«, rätselte Mama später. Es bedurfte meines fortgeschrittenen Wortschatzes, um aufzuklären, dass »A-A« in deutscher Kindersprache etwas anderes meinte als »Leckerlecker«.
Am 10. November 1989, als kein Zweifel mehr darüber bestand, dass Frau Miesinger-Rathgeb für alle Zeit vergrault worden war, konnte die Wiedereinweihung des Gemeinschaftsraums gefeiert werden. Dorota Ogórkowa hatte einen Fernseher vom Sperrmüll gespendet, und alle trudelten mit Bierflaschen und Salzstangen ein, um die Abendnachrichten zu schauen. Dank verbesserter Deutschkenntnisse waren die Aussiedler endlich nicht mehr vom Weltgeschehen abgeschnitten. Während Damian Ogórek noch auf den Fernseher einschlug, um das Bild zu korrigieren, erklang schon die Erkennungsmelodie, gefolgt von der Ansage: »Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit der Tagesschau.« Neben dem Nachrichtensprecher stand groß: »Offene Grenze«. Es wurde ein Gedränge gezeigt, eine gelbe U-Bahn fuhr ein, und Menschenmassen pressten sich durch die Kontrollstellen zwischen DDR und BRD . Was die Sprache verschleierte, erklärten die Bilder. Männer in Jeansjacken standen auf der Berliner Mauer und schlugen mit Hämmern auf sie ein. Ein Stück brach heraus und kippte vornüber. Vor dem Brandenburger Tor weitere Menschenmassen, die skandierten: »Die Mauer muss weg!« Neben dem Nachrichtensprecher stand jetzt: »Ansturm von DDR -Bürgern«, und mein Herz klopfte beim Anblick von Schlangen hupender Trabis, aus denen Menschen ihre Arme in einen staubigen Sonnenaufgang streckten. Hunderttausende waren auf dem Weg in den Westen.
17.
Lambada
Es war unser erster Winter ohne Schnee. Papa brauchte keine Russenmütze mit Ohrenklappen und Mama keinen Pelzmantel mehr, und ich würde nie wieder dick eingepackt wie Juri Gagarin in weißen Schneelandschaften versinken. Obwohl dieser Umstand mit ungekannter Bewegungsfreiheit einherging, vermisste ich die Möglichkeit, den Schlitten aus Omas Keller zu ziehen. Ich vermisste sogar den giftigen, stinkenden Rauch, der an polnischen Dezembertagen aus den Schornsteinen kroch. Zum Glück gab es etwas, das die Trübseligkeit vertrieb, weil es aus einer Welt kam, in der immer Sommer war: Es trug den exotischen Namen »Lambada«. Immer wenn ich
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