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Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)

Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)

Titel: Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Tobor
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verschwinden. Jeder versuchte, sich aus dem Unterricht zu stehlen, ohne die deutsche Frau spüren zu lassen, dass man in der Baracke keine Zeit für Zungenbrecher hatte. Die Gebote polnischer Höflichkeit machten es undenkbar, Frau Miesinger-Rathgeb jemals die Wahrheit zu sagen.
    Mein eigener Sprachkurs fand in der Schule statt, einmal pro Woche, und hieß auf dem Stundenplan »Förderunterricht«. Diese zwei Stunden gehörten den Kindern aus anderen Ländern, die noch nicht Deutsch sprechen konnten. Ewa und Fatma saßen nicht mehr drin. Meine Förderlehrerin hieß Frau Sonnenschein. Sie trug eine Bluse, auf die kleine Bananen gestickt waren, und zwischen ihren glänzenden Bäckchen klebte das liebste Lächeln.
    Im Förderunterricht lernten wir zunächst Buchstaben, die es nur im Deutschen gab. Am ulkigsten war ein kleines s, das wie ein großes B aussah und im Mund zischte. Während man im Polnischen an Buchstaben Schwänzchen und Striche heften konnte, schwebten im Deutschen manchmal zwei Punkte über dem A, O oder U. Das Ü sah aus wie Frau Sonnenschein, wenn sie von einem Ohr zum anderen grinste, und kam in Wörtern vor, die sie besonders mochte: Übung , also die Aufgaben, die wir in ihrem Unterricht machten, oder Tüte . Da waren die Kopien mit den Übungen drin. Im Ö erkannte ich den fauchenden Löwen und das vor Schreck geweitete Maul einer Kröte . Und alles mit einem Ä darin klang verächtlich und unfreundlich. »Bäh!« , sagte man, wenn man etwas nicht mochte. Krähe hieß der schaurige Vogel. »Verspätung!« , schrieb Frau Stubenrecht ins Klassenbuch, wenn man verschlafen hatte.
    Im Förderunterricht fühlte ich mich endlich wieder normal. Meine Klamotten waren normal, denn sie unterschieden sich kaum von denen der Russen, Bulgaren und Rumänen. Meine Haare waren normal. Keiner von uns aus dem Osten hatte einen Pottschnitt oder eine saure Dauerwelle. Sogar unsere Sprachlosigkeit war normal. In der ganzen Schule gab es keinen Ort, der sich sicherer anfühlte. Bis ein neuer Schüler in die Förderklasse kam. Einer, der überhaupt nicht normal war.
    »Das ist Dominik«, sagte Frau Sonnenschein. »Er kommt zwar aus Deutschland, aber …« Mit schulterzuckendem Unbehagen korrigierte sie ihre Miene zu einem optimistischen Lächeln.
    Nicht der schon wieder, dachte ich, während die Panik in mir hochstieg. Was hatte dieser Rabauke ausgerechnet im Förderunterricht verloren, dem einzigen Ort, wo ich sein durfte, wie ich war?
    »Dominik hat Probleme mit Lesen und Schreiben. Darum ist er hier. Um mit uns zu üben«, erklärte Frau Sonnenschein.
    Dominik, der die ganze Zeit finster ins Leere gestarrt hatte, nahm in der letzten Reihe Platz, als wollte er mit niemandem etwas zu tun haben. Er versteckte sein Gesicht hinter dem Vorhang seiner viel zu lang gewordenen Haare und zeichnete mit dem Finger die Ritzspuren auf dem Tisch nach. Wann immer mein Blick sich in seine Richtung verirrte, schien Dominik bemüht, niemandem in die Augen zu sehen.
    Frau Sonnenschein teilte Arbeitsblätter aus und stellte fest, dass sie nicht genug Exemplare kopiert hatte.
    »Dominik, setz dich bitte zu Alexandra«, hörte ich sie raunen wie in einem Alptraum. »Ihr könnt die Aufgabe auch zusammen machen.«
    Bevor ich ein Stoßgebet sprechen und ein Kreuz schlagen konnte, saß Dominik neben mir und fauchte: »Polacken!«
    Ich zuckte zusammen. Versuchte er sich etwa am Polnischen? Einen Mann aus Polen nannte man Polak , eine Frau hieß Polka . Das Wort »Polacken« existierte in der polnischen Sprache nicht.
    »Polka«, berichtigte ich ihn also leise.
    Dominik sah mich kopfschüttelnd an, dann schnaubte er verächtlich durch die Nasenlöcher und fummelte einen abgenagten Bleistift aus seinem Mäppchen.
    Unsere Übung bestand darin, die Mitglieder einer Bärenfamilie richtig zu benennen. Dominik riss das Blatt an sich, und ich sah mit zusammengepressten Augen zu, wie er den großen Bären mit »Papper« beschriftete und den kleinen Bärenjungen mit »Bruda«.
    »Keine Lust mehr«, grummelte er und schob mir das unvollendete Blatt hin, ohne mich anzusehen. Ich korrigierte »Papper« zu »Papa« und »Bruda« zu »Bruder« und ergänzte die restlichen Leerstellen. Unsere Arbeit wurde von Frau Sonnenschein mit einem doppelten Hundestempel belohnt.
    Nach der Übung flüchtete Dominik sofort zurück an seinen Platz. Unser Übungsblatt hatte er mitgenommen. Den Rest der Stunde verbrachte er mit wütendem Kritzeln.
    Als der Gong den Unterricht

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