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Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)

Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)

Titel: Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Tobor
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zu werfen. Während ich auf den Rabauken starrte, der mit solcher Leichtigkeit alle Gesetze der Höflichkeit brach, hatten die anderen Kinder sich längst gelangweilt von ihm abgewandt. Es war bestimmt nicht das erste Mal, dass er dieses Verhalten an den Tag gelegt hatte.
    Kurz vor der großen Pause teilte Frau Stubenrecht Milchpäckchen aus, von denen es in der Plastikkiste drei verschiedene Sorten gab. Weiße Packungen, braune Packungen – da war dann wohl Kakao drin – und gelbe Packungen. Ich fragte mich, wofür das Gelb stehen mochte. Als hätte sie meine Gedanken erraten, stellte Frau Stubenrecht mir ausgerechnet ein gelbes Päckchen auf den Tisch. Gekonnt löste ich den Strohhalm vom Klebepopel, durchstach mit der Spitze die Silberfolie und schlürfte mutig drauflos. Halleluja! Wenn das nicht der Geschmack des Paradieses war! »Vanille« stand klein auf der Packung. Ich drückte sie mit beiden Händen und saugte mich in Ekstase. Das leere Milchpäckchen schmiss ich nicht weg, sondern legte es in meinen Ranzen, um es Mama und Papa zu Hause vorführen zu können. Wenn man das leere Päckchen drückte, kam aus dem Strohhalm ja noch der Duft, der den himmlischen Geschmack erahnen ließ.
    Ich bemerkte, wie mich die Lehrerin besorgt musterte. Schließlich trat sie an meinen Tisch und fragte: »Hast du keinen Hunger, Alexandra?« Mit einer Hand tippte sie sich an den Mund, mit der anderen tätschelte sie ihren Bauch. Mama hatte im Morgentrubel gar nicht daran gedacht, mir ein Brot mitzugeben. Ich nickte, und Frau Stubenrecht holte einen Mars-Riegel aus ihrer Tasche, den sie mir lächelnd auf den Tisch legte. Ich bedankte mich und ließ ihn in die Tasche meiner Strickjacke gleiten. Meine Eltern und Tomek würden sich bestimmt über ein Mitbringsel freuen. Außerdem war der Riegel ein Beweis für das unbegreiflich zuvorkommende Verhalten deutscher Lehrer.
    Als ich schon eine ganze Weile allein auf dem Schulhof gestanden hatte, kamen drei Mädchen aus meiner Klasse auf mich zu. Die in der Mitte hatte Augenringe und sah dank fehlender Vorderzähne aus wie ein kleiner Vampir.
    »Sag mal Schrank!«, rief sie frech.
    »Szrank«, antwortete ich brav.
    »Sag mal Apfel!«, forderte eine mit gepolstertem Haarreifen, die ohne ihren flaumigen Schnurrbart wie eine arabische Prinzessin ausgesehen hätte.
    »Sag mal Elefant!«, befahl die andere wieder, während die Dritte, eine Blondine mit fleischigem Kinn, nur nichtssagend grinste.
    »Sag mal: Ich bin doof!«, rief jemand schroff dazwischen. Ich riss den Kopf herum und erkannte den Rüpel, der nach dem Diktat Radau gemacht hatte.
    »Gib mir sofort dein Mars, oder ich hau dich!«, sagte er mit ausgestreckter Hand, an der er seine gekrümmten Finger wackeln ließ. Ich starrte ihn mit glühendem Kopf an.
    »Was ist, bist du taub?«, schrie er mich an. »Gib mir dein Mars!«
    Die Mädchen hatten sich zwei Schritte entfernt und beobachteten die Situation mit schauriger Erwartung. Ich zog den Marsriegel aus meiner Tasche, den Dominik mir sogleich mit einer unvorhersehbaren Armbewegung aus der Hand riss. Dann begann er, damit vor meiner Nase herumzufuchteln, als wäre ich ein Hund und der Riegel ein Stock.
    »Hol’s dir doch, hol’s dir doch!«, triezte er mich.
    »Ich habe kein Geld«, murmelte ich.
    »Was hast du gesagt?« Dominik brach in glucksendes Gelächter aus.
    »Ich habe kein Geld«, wiederholte ich leise.
    Die drei Mädchen, die uns keine Sekunde aus den Augen gelassen hatten, grölten, und Dominik ließ den Riegel in der Bauchtasche seines Pullovers verschwinden.
    Weil ich spürte, dass mir eine Flucht bevorstand, sah ich mich nach einem vertrauten Kopftuch um, aber weit und breit war keine Spur von Fatma. Ich stürmte ins Schulgebäude und atmete auf, als ich auf Anhieb die Mädchentoiletten fand. Keuchend schloss ich mich in einer Kabine ein und streckte die Beine weit von mir, damit mich niemand an den Eichhörnchen-Schuhen erkannte. Erst nach dem zweiten Pausengong fasste ich den Mut, die Kabine zu verlassen. Im Spiegel über dem Waschbecken fand ich meine Augen zu zwei graublauen Pfützen geronnen, goldbraun gesprenkelt mit dem Weizenstaub meiner ländlichen Herkunft.
    Zum Unterricht kam ich zu spät. Die Lehrerin teilte gerade Blätter mit Rechenaufgaben aus. Angestrengt versuchte ich, nicht Dominik anzuschauen, der sich statt meines Mars-Riegels die Schnüre seines Kapuzenpullovers schmecken ließ. Er hatte mich bestohlen und gedemütigt und war mit Abstand

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