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Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)

Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)

Titel: Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Tobor
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des Lambada-Mädchens, sie konnte mindestens genauso gut tanzen. Mit Schrecken sah ich zu, wie sie ihm die Hände auf die Schultern legte und die beiden wie Puderpinsel dahinwirbelten. Im brodelnden Rausch aus Wut, Scham und Eifersucht rannte ich aus dem Partyraum in den Flur und dann durch die Hintertür nach draußen. Ich ließ mich auf der Schaukel vor der Baracke nieder, riss mir die Krone vom Kopf und warf sie in den Sand. Im Hintergrund vernahm ich die Geräuschkulisse des Krieges. Knallfrösche explodierten, Rauch stieg auf, und von den Straßen her hallte wildes Gebrüll. Die Kälte ließ meine unförmigen Beine zittern, und ein Schluchzen saß in meiner Kehle. Ich hatte vielleicht zwanzig Minuten allein auf der Schaukel gesessen, als die ersten Gäste nach draußen traten.
    »Da bist du ja!«, rief Isa und rannte mit fuchtelnden Armen auf mich zu. »In fünf Minuten gibt’s Feuerwerk!«
    Obwohl ich nie zuvor ein Feuerwerk gesehen hatte, brannte mir gerade nur eine Frage unter den Nägeln.
    »Wer war denn das Mädchen im weißen Kleid?«
    »Meinst du die Deutsche, die mit ihrem Vater gekommen ist? Die hat Bajtek eingeladen.« Isaura kicherte. »Ich glaube, er liebt sie.« Ich spürte, wie ich den Boden unter den Füßen verlor, als würde im Sand unter mir ein Sog entstehen, der mich in die Tiefe zog.
    »Woher weißt du, dass er sie liebt?«, fragte ich bange.
    »Weil ich gesehen habe, wie sie sich hinter der Baracke geküsst haben«, sagte sie mit vielsagendem Blick.
    »Geküsst?« Die Vorstellung entsetzte mich.
    »Ja, wie ein Liebespaar«, bestätigte sie meine Befürchtung.
    »Wieso hast du deine schöne Krone nicht mehr auf?« Isa hob die zerknüllten Überreste meines Prinzessinnendaseins auf und setzte sie mir wieder auf den Kopf.
    Immer mehr Menschen verließen die Baracke. Die Erwachsenen begannen zu zählen. Neun, acht, sieben, endlich entdeckte ich Mama und Papa, der Tomek auf seinen Schultern reiten ließ, vier, drei, zwei, und die ersten Raketen explodierten in der Luft wie tausend bunte Spinnen, während alle mit offenen Mündern an den Himmel starrten und »Aaah!« und »Oooh!« raunten. Ich lief zu meinen Eltern, die mich küssend umarmten. Mama ließ mich an ihrem szampan nippen, und Papa zündete eine Wunderkerze an, die er mir mit spitzen Fingern reichte. Während aus dem unscheinbaren Draht die schönsten Funken sprühten, musste ich an die Lichter auf der Autobahn denken und die Feuerschweife rasender Autos, an die erste Nacht in Deutschland, als alles noch neu und unbekannt war und ich das Gefühl hatte, nicht mehr Ola, sondern Alexis zu sein. Nun hielt ich den abgebrannten, stinkenden Draht in der Hand.
    »Hey, Ola! Frohes Neues!«, rief Bajtek mir fröhlich zu, bevor er mit dem Finger auf meine Krone zeigte. »Ist dir ein Butterbrot auf dem Kopf explodiert?«
    Ich lachte, als hätte er den Witz über jemand anderen gemacht.
    Bevor ich schlafen ging, warf ich die Krone in den Mülleimer. Da lag sie nun, ein Produkt von Arbeit und Liebe, wie die verschmähten Butterbrote deutscher Kinder.

20.
Die Narrensitzung
    Der Lebensmut meiner Mutter wurde von den Machenschaften einer bösen Hexe überschattet: Frau Kowalski sauste wie ein zerstörerischer Sturm durch Mamas Kopf. Obwohl seit der Adventsfeier in meiner Schule einige Zeit verstrichen war, konnte Mama sich noch an jeden Satz erinnern, den Ewas Mutter ihr zugewispert hatte. Bald glaubte sie selbst daran, dass ihre Kleidung und ihre Herkunft sie zu einem Menschen zweiter Klasse machten, und Frau Kowalski war nicht länger eine Person ohne Kultur, sondern jemand, der die Kühnheit besaß, eine unbequeme Wahrheit auszusprechen. Vom vielen Grübeln und Zweifeln wurde Mama immer müder und antriebsloser. Die einzige Aktivität, bei der sie noch vor Energie sprühte, war Möbelrücken. Alle paar Tage musste das Bett mehr nach vorn oder mehr nach hinten, der Tisch näher ans Fenster oder weiter von ihm weg, mal fanden wir das Zimmer gespiegelt vor, mal unbegehbar. Aus einer Fernsehdokumentation über das Leben in Gefängnissen hatten wir erfahren, dass deutsche Strafgefangene dieselben Matratzen hatten wie wir, und Mama wurde klar, dass auch wir nicht mehr als eine Zelle bewohnten.
    Am Ende des Monats wurde gegenüber, in nur zwanzig Metern Entfernung, eine neue Baracke aufgestellt.
    »Endlich! Sie haben eine Psychiatrie für uns gebaut!«, scherzte Papa. Aber die »Winde der Veränderung«, von denen Willy Brandt gesprochen hatte, fegten

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