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Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)

Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)

Titel: Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Tobor
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uns keine Nervenärzte in die Nachbarschaft, sondern DDR -Bürger. Innerhalb von nur einem Tag war Baracke Nr. 2 von unbekanntem Leben erfüllt, und es dauerte nicht lange, da platzten die Zimmer drüben aus allen Nähten. Familien und Paare aus unserer polnisch-russischen Baracke, in deren Zimmer noch freie Betten waren, mussten sich damit arrangieren, dass nun völlig fremde Menschen bei ihnen einzogen. Menschen, mit denen man sich nicht einmal verständigen konnte, weil sie ein Deutsch sprachen, das ganz anders als das Deutsch aus dem Fernsehen klang. Außerdem legten sie ein unsittliches Verhalten an den Tag, das unsere Eltern in Angst und Schrecken versetzte. Während die polnischen Frauen nach dem Duschgang die Gürtel ihrer Bademäntel um sich zurrten wie die Bindfäden um ihre Rindsrouladen, entblößten die Bademäntel der DDR -Frauen mehr, als sie verhüllten. Ihre Nachlässigkeit war für uns Kinder eine lebensnahe Aufklärungsergänzung zu dem Film »Eis am Stiel«. Zum Baden ließen die Eltern uns bald nur noch im Dunkeln raus.
    Anfang Februar erreichte uns ein Brief von Oma Greta.
    8. Januar 1990
    Meine verlorenen Kinder,
    seit Ihr rausgefahren seid, ist Ruhe im Haus. Endlich konnte ich mich Eures unnützen Krempels entledigen. Die Bibliothek habe ich auf dem Markt verkauft, die Kinderbücher liegen im Keller neben dem Ofen. Ganz fein habe ich alles gemacht, das Haus ist jetzt eine richtige Puppenstube.
    Olas Köter habe ich im Wald ausgesetzt, aber mit Hunden ist es wie mit Adelbert damals, kaum zur Tür rausgeschmissen, springen sie durchs Fenster wieder rein.
    Ich danke Euch für die bescheidenen Geschenke und schockierenden Fotos. Wie ich sehe, habt Ihr in Deutschland keine Zeit, Eure Kleidung ordentlich zu bügeln. Ich werde Euch wohl einen Besuch abstatten müssen!
    Nehmt Euch in Acht,
    Oma Greta
    Mamas Gesicht war ganz weiß, als sie den Brief zusammenfaltete.
    »O Jesus. Was machen wir nur? Oma darf uns auf keinen Fall besuchen. Wenn sie sieht, wie wir hier leben, sind wir erledigt. Und was erst, wenn sie von dem Auto erfährt?«
    »Wie ich deine Mutter kenne, will sie uns nur Angst einjagen«, winkte Papa ab. »Meinst du wirklich, sie ist immer noch beleidigt? Weil wir in Deutschland geblieben sind?«
    »Natürlich ist sie beleidigt!«, rief Mama, als wäre Papa schwer von Begriff. »Riech doch nur an dem Brief!«
    Das Papier roch in der Tat scharf nach Omas Schläfensalbe, die an den Briefecken kleine Fettflecke hinterlassen hatte. Wie junge Mädchen Papierbögen mit Rosenwasser besprengten, um die Zartheit ihrer Gefühle auszudrücken, ließ Oma uns auf ihre Weise wissen, dass sie Kopfschmerzen bekam, wenn sie an uns dachte.
    »Ach was! Sie kommt nicht«, beharrte Papa. »Sie hat doch kein Auto, und eine Busreise kann sie sich auch nicht leisten.«
    »Und was, wenn doch?« Mama sprang vom Stuhl. »Wo sollen wir sie unterbringen? Wir haben doch nicht mal ein Bett für sie!«
    »Mach dir keine Sorgen«, entgegnete Papa. »Sie blufft nur.«
    »Wenn du dir so sicher bist, kennst du meine Mutter wohl schlecht. Hast du das gelesen? Du wirst sehen, sie wird noch mit einem Bügeleisen vor unserer Tür stehen. Das ist das Ende der Welt!« Mama schrie beinahe.
    »Ach, hör doch auf«, sagte Papa genervt.
    »Und was ist, wenn sie erfährt, dass du arbeitslos bist?«, fuhr Mama unbeirrt fort. »Im ganzen Dorf wird sie es rumerzählen! Ich hab euch gewarnt, und ihr habt nicht gehört, wird sie sagen!«
    »Ich gehe spazieren«, sagte Papa, nahm seine Jacke von der Stuhllehne und verließ das Zimmer, während Mama nur betreten ins Leere starrte.
    Während die Natur sich nach den Strapazen des Winters wieder aufzurappeln begann, Schneeglöckchen aus der Erde brachen und erste Frühlingsschauer den Schmutz aus den Straßen spülten, schien die Baracke eine vergessene Insel zu sein, die keinen Sonnenstrahl abbekam und allmählich in der um sich greifenden Schwermut ihrer Bewohner versank. Wer noch gesund und bei Kräften war, fuhr schon morgens ins nahe gelegene Düsseldorf und versteckte sich oben im Fernsehturm. Dort trank er Zitronentee aus dem Automaten, drei über den Tag verteilt, und harrte oben aus, bis man ihn rauswarf. Die Lebensmüden versuchten, im Gemeinschaftsraum Zerstreuung zu finden, der sich mit der Zeit in eine verrauchte Gruft verwandelt hatte. Sogar die Stoffblumen sahen vertrocknet aus in ihrem kümmerlichen Strauß, der auf der Fensterbank lag wie auf dem Sargdeckel eines Einsamen.

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