Sixteen Moons - Eine unsterbliche Liebe
sollte R eece auf keinen Fall in mein Gesicht sehen lassen. Anscheinend genügte einer Seherin nur ein kurzer Blick, um zu wissen, ob man log. Eine Seherin anzulügen, war noch schwieriger, als Amma anzulügen.
»Weil sie doch auf dem Gemälde in der Eingangshalle abgebildet ist. Ich dachte, es wäre toll, ihre Grabinschrift zu nehmen. Es ist ja nicht so, als hätten wir wie die meisten anderen Leute hier einen großen Familienfriedhof, aus dem wir beliebig auswählen könnten.«
Die hypnotische Caster-Musik, die auf der Party gespielt wurde, verlor sich in der Ferne, stattdessen raschelte nun trockenes Laub unter unseren Füßen. Wir waren fast schon in Greenbrier angelangt, es war nicht mehr weit. DerVollmond schien so hell, dass wir unsereTaschenlampen gar nicht anknipsen mussten. Mir fiel wieder ein, was Amma auf dem Friedhof zu Macon gesagt hatte. Der Halbmond ist fürWeiße Magie, derVollmond für Schwarze. Wir hatten nichts Magisches vor, so hoffte ich jedenfalls, aber es war trotzdem unheimlich.
»Ich weiß nicht, ob es Macon recht ist, dass wir hier draußen in der Dunkelheit herumlaufen. Hast du ihm gesagt, wohin wir gehen?«Tante Del war ein wenig ängstlich. Sie zupfte am Kragen ihrer hochgeschlossenen Spitzenbluse.
»Ich habe ihm gesagt, dass wir einen Spaziergang machen. Er meinte nur, ich solle in deiner Nähe bleiben.«
»Ich weiß nicht, ob ich fit genug bin für solche Unternehmungen. Ich muss zugeben, dass ich schon ein bisschen aus der Puste bin.«Tante Del war außer Atem geraten und ihr Haar hatte sich aus ihrem immer ein wenig schiefen Dutt gelöst und wehte ihr ins Gesicht.
Der vertraute Duft stieg mir in die Nase. »Wir sind da.«
»Dem Himmel sei Dank.«
Wir gingen zu der baufälligen Steinmauer, die den Garten umschloss, in dem ich Lena an demTag weinend vorgefunden hatte, als das Fenster zu Bruch gegangen war. Ich duckte mich unter dem Bogengang aus wilden Ranken hindurch und betrat den Garten. In der Nacht sah er ganz anders aus, gar nicht wie ein Ort, an dem man zuschaut, wie dieWolken ziehen, eher wie einer, an dem eine mit einem Fluch belegte Caster begraben ist.
Hier ist es, Ethan. Sie ist hier. Ich fühle es.
Ich auch.
Wo, glaubst du, ist ihr Grab?
Als wir bei der Kaminplatte angelangt waren, entdeckte ich auf der Lichtung dahinter einen Stein, nur wenige Meter entfernt. Es war ein Grabstein und darauf saß eine schattenhafte Gestalt.
Lena stöhnte leise auf, aber ich hörte sie trotzdem.
Ethan, siehst du sie?
Ja.
Genevieve. Man konnte sie nur teilweise erkennen, sie war eine Erscheinung aus Dunst und Licht, ein schemenhafter Körper, der auftauchte und wieder verschwand, aber ein Irrtum war ausgeschlossen. Es war Genevieve, die Frau auf dem Gemälde. Sie hatte die gleichen goldenen Augen und das gleiche gelockte rote Haar. Es wehte sanft im Wind, sie sah aus wie eine Frau, die auf einer Bank an der Bushaltestelle sitzt, nicht wie eine Geistererscheinung auf einem Grabstein. Selbst jetzt noch war sie schön, aber zugleich auch Furcht erregend. Meine Nackenhaare sträubten sich.
Womöglich hatten wir einen Fehler gemacht.
Tante Del blieb wie angewurzelt stehen. Sie sah Genevieve auch, aber sie nahm offensichtlich an, dass niemand sonst sie sehen konnte. Sie glaubte wahrscheinlich, die Erscheinung rühre daher, dass zu viele Epochen, Bilder dieses Ortes aus zwanzig verschiedenen Zeitaltern, gleichzeitig auf sie einstürmten.
»Ich denke, wir sollten wieder ins Haus zurückgehen. Mir geht es nicht besonders gut.« Keine Frage,Tante Del wollte sich nicht mit einem hundertfünfzig Jahre alten Geist auf einem Caster-Friedhof einlassen.
Lena verfing sich in einer Ranke und stolperte. Ich fasste sie am Arm, um sie festzuhalten. »Alles in Ordnung mit dir?«
Nachdem sie sich wieder gefangen hatte, sah sie mich für den Bruchteil einer Sekunde an, aber dieser Moment reichte für R eece. Sie blickte in Lenas Augen, in ihr Gesicht, in ihre Gedanken.
»Mama, sie lügen! Sie sind gar nicht wegen eines Schulprojekts hier. Sie suchen etwas.« R eece legte die Hand an die Schläfen, um sich besser zu konzentrieren. »Es ist ein Buch!«
Tante Del schaute noch verwirrter drein als sonst. »Welches Buch hofft ihr, auf einem Friedhof zu finden?«
Lena wich R eece’ Blick aus. »Es handelt sich um ein Buch, das Genevieve gehörte.«
Ich öffnete den R ucksack und zog die Schaufel heraus. Langsam ging ich auf das Grab zu und versuchte, nicht daran zu denken, dass Genevieves Geist
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