Sixteen Moons - Eine unsterbliche Liebe
sich auf einen Stuhl in der Zimmerecke. Sie rückte das Instrument unter dem Kinn zurecht, nahm den Bogen und setzte ihn auf die Saiten. Einen Moment lang verharrte sie reglos mit geschlossenen Augen, als ob wir vor einem Orchester und nicht in ihrem Schlafzimmer säßen. Dann fing sie an zu spielen. Die Töne flossen aus ihren Fingern in das Zimmer, breiteten sich aus wie eine der vielen Kräfte, die in ihr schlummerten. Der luftige weißeVorhang vor ihrem Fenster bewegte sich und ich hörte das Lied.
Sixteen moons, sixteen years,
The claiming moon, the hour nears,
In these pages Darkness clears,
Powers bind what fire sears …
Während ich ihr noch zusah, stand Lena vorsichtig auf und legte das Instrument auf den Stuhl. Sie spielte nicht mehr, aber die Melodie erklang weiter. Lena lehnte den Bogen gegen den Stuhl und setzte sich wieder neben mich auf den Fußboden.
Psst.
Das nennst du üben?
»Onkel Macon scheint den Unterschied nicht zu kennen. Und sieh mal …« Sie zeigte zur Tür, von wo man ein rhythmisches Klopfen hörte. Es war Boos Schwanz. »Ihm gefällt es, und ich mag es gern, wenn er vor meiner Tür sitzt. Im Grunde genommen ist es einfach nur eine Alarmanlage gegen Erwachsene.« So betrachtet hatte sie recht.
Lena kniete sich neben das Buch und nahm es problemlos in die Hand. Sie schlug es auf, und wir starrten wieder auf das, worauf wir schon den ganzenTag lang gestarrt hatten: Hunderte von Sprüchen, sorgfältig niedergeschrieben in Englisch, Latein, Gälisch und anderen, mir unbekannten Sprachen; einer bestand aus seltsamen kringeligen Buchstaben, die ich ebenfalls noch nie gesehen hatte. Die dünnen braunen Seiten waren brüchig, man konnte fast durch sie hindurchsehen. Die Pergamentblätter waren mit brauner Tinte bedeckt in einer altertümlich grazilen Handschrift. Jedenfalls hoffte ich, dass es Tinte war.
Sie tippte mit dem Finger auf eine Zeile und gab mir das lateinische Wörterbuch. »Das ist nicht Latein. Sieh selbst nach.«
»Ich vermute, es ist Gälisch. Hast du so etwas Ähnliches schon mal gesehen?« Ich zeigte auf die kringelige Schrift.
»Nein. Vielleicht ist es eine Art Geheimsprache der Caster.«
»Zu dumm, dass wir kein Caster-Wörterbuch zur Hand haben.«
»Wir haben eines. Besser gesagt, mein Onkel hat eines. Unten in seiner Bibliothek stehen Hunderte von Caster-Büchern. Es sind zwar nicht die Lunae Libri , aber dort finden wir vermutlich alles, was wir brauchen.«
»Wie viel Zeit bleibt uns noch, bis er aufsteht?«
»Nicht genug.«
Ich zog den Ärmel meines Pullovers ganz über die Hand und fasste damit das Buch an wie mit einem von AmmasTopflappen. Ich blätterte in den dünnen Seiten, und sie knisterten, als bestünden sie aus trockenem Laub. »Sagt dir das alles irgendetwas?«
Lena schüttelte den Kopf. »In meiner Familie darf man vor seiner Berufung eigentlich nichts über diese Dinge erfahren.« Sie beugte sich über das Buch und fügte leise hinzu: »Falls man auf die Dunkle Seite geht, nehme ich an.« Ich war klug genug, nicht weiter zu fragen.
Seite um Seite blätterten wir durch und fanden nichts, was wir auch nur annähernd verstanden hätten. In dem Buch waren Abbildungen, manche jagten einem Angst ein, manche waren schön. Lebewesen, Zeichen, Tiere. Im Buch der Monde hatten selbst die menschlichen Gesichtszüge etwas Unmenschliches an sich. Mir kam es vor wie ein Lexikon aus einer anderenWelt.
Lena legte das Buch in ihren Schoß. »Es ist so viel, was ich nicht weiß, und alles ist so …«
»Bizarr?«
Ich lehnte mich gegen ihr Bett und sah zur Zimmerdecke hoch. Überall standen Wörter, Wörter und Zahlen. Sie zählte rückwärts und hatte die Zahlen an die Zimmerwand geschrieben wie in einer Gefängniszelle.
100, 78, 50 …
Wie lange konnten wir noch so wie jetzt herumsitzen? Lenas Geburtstag rückte immer näher und ihre Kräfte nahmen bereits zu.Was, wenn sie recht hatte und sie danach nicht wiederzuerkennen wäre?Was, wenn sie so Dunkel würde, dass sie mich gar nicht mehr kannte oder ich ihr völlig gleichgültig geworden wäre? Ich starrte auf die Bratsche in der Ecke, bis ich den Anblick nicht länger ertrug. Ich schloss die Augen und lauschte der Caster-Melodie. Und dann hörte ich Lenas Stimme …
»… Bis die Dunkelheyt die zeyt der berufung bringet, beim sechzehnten Monde, sodann derjenige aus freyem Willen und eygenem Vermögen die ewige Wahl treffen wird, am ende des Tages, zum letzten Augenblicke der letzten Stunde, im Licht
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