Sixteen Moons - Eine unsterbliche Liebe
lassen?«
Sie wich gequält meinem Blick aus. »So etwas stößt mir eben zu. Ich spüre etwas, ich werde wütend oder ängstlich und dann … dann passiert es einfach.«
Ich legte meine Hand auf ihre, und ich spürte, wie ihre Wärme in meinem Arm aufstieg. »Dann zerspringen zum Beispiel Scheiben?«
Sie hob den Kopf, und ich nahm ihre Hand fest in meine, bis ich sie ganz umschlossen hielt. Plötzlich bildete sich in der Zimmerecke hinter ihr ein Riss in dem alten Putz. Er wurde immer größer, reichte bis zur Decke, zog sich um den Leuchter aus mattem Metall und von dort aus wieder nach unten. Es sah aus wie ein Herz. Ein riesiges, mit schwungvoller Hand gezeichnetes Girlie-Herz war gerade im bröckelnden Putz der Schlafzimmerwand erschienen.
»Lena …«
»Ja?«
»Wird uns die Zimmerdecke gleich auf den Kopf fallen?«
Sie drehte sich um und entdeckte den Riss. Sie biss sich auf die Unterlippe und wurde rot. »Ich glaube nicht. Es ist nur ein Riss im Putz.«
»Hast du das gemacht?«
»Nein.« IhreWangen und ihre Nasenspitze wurden immer röter. Sie schaute weg.
Ich hätte sie gerne gefragt, was sie gerade gedacht hatte, aber ich wollte sie nicht inVerlegenheit bringen. Ich hoffte einfach, dass es etwas mit mir zu tun hatte und damit, dass ich ihre Hand fest in meiner hielt. Und mit demWort, das ich von ihr gehört zu haben glaubte, kurz bevor ich in Ohnmacht fiel. Ich blickte unschlüssig auf den Riss. Dieser Sprung im Putz konnte so vieles bedeuten.
»Kannst du das auch wieder ungeschehen machen? Diese Sachen, die dir … einfach passieren?«
Lena seufzte, offensichtlich erleichtert, dass ich das Thema gewechselt hatte. »Manchmal. Kommt darauf an. Ab und zu überkommt es mich so stark, dass ich machtlos dagegen bin und es danach auch nicht mehr in Ordnung bringen kann. Ich glaube nicht, dass ich das Fenster in der Schule wieder hätte ganz machen können. Ich glaube nicht, dass ich an demTag, an dem wir uns begegnet sind, den Sturm hätte aufhalten können.«
»Und ich glaube nicht, dass es allein deine Schuld war. Du bist nicht für jeden Sturm verantwortlich, der durch Gatlin County fegt. Die Hurrikan-Saison ist noch lange nicht zu Ende.«
Sie legte sich auf den Bauch und sah mir tief in die Augen. Sie hielt meinen Blick fest und ich ihren. Die Wärme ihrer Berührung ließ mich erbeben. »Hast du nicht gesehen, was gestern Abend passiert ist?«
»Manchmal ist ein Hurrikan vielleicht nur ein ganz gewöhnlicher Hurrikan, Lena.«
»Seit ich hier bin, bin ich die Hurrikan-Saison in Gatlin.« Sie wollte mir ihre Hand entziehen, aber ich ließ sie nicht los.
»Das ist komisch. Ich hätte dich eher für ein ganz normales Mädchen gehalten.«
»Das bin ich aber nicht. Ich bin wie eine Sturmfront, mich kann niemand beherrschen. In meinem Alter können die meisten Caster ihre Kräfte kontrollieren, aber viel zu häufig kommt es mir vor, als beherrschten meine Kräfte mich.« Sie zeigte auf ihr Abbild im Spiegel an derWand. Während wir zusahen, kritzelte ein unsichtbarer Filzstift wie von selbst: Wer ist dieses Mädchen? »Ich versuche immer noch, es herauszufinden, aber manchmal denke ich, es wird mir nie gelingen.«
»Haben alle Caster die gleichen Kräfte, Begabungen oder was auch immer?«
»Nein. Wir alle können einfache Dinge tun, wie zum Beispiel Gegenstände hin und her bewegen, aber darüber hinaus hat jeder Caster noch ganz besondere Fähigkeiten, die mit seiner jeweiligen Gabe zusammenhängen.«
In diesem Moment wünschte ich mir, es gäbe so etwas wie Kurse, die man belegen könnte, vielleicht eine Einführung in das Wesen der Caster , Kursnummer 101, denn ich war bei diesem Thema völlig blank. Der einzige Mensch, den ich kannte, der besondere Fähigkeiten hatte, war Amma. Das war doch schon was, wenn man die Zukunft vorhersagen und böse Geister abwehren konnte, oder nicht? Und soweit ich wusste, konnte Amma allein mit der Kraft ihrer Gedanken Dinge bewegen; auf jeden Fall genügte ein Blick von ihr, damit ich meinen Hintern bewegte. »Und was ist mitTante Del?Was ist ihre Gabe?«
»Sie ist ein Palimpsest. Sie kann die Zeit lesen.«
»Die Zeit lesen?«
»So wie du und ich die Gegenwart sehen, so siehtTante Del verschiedene Ereignisse in derVergangenheit und in der Gegenwart, und zwar alle zur gleichen Zeit. Sie kann in ein Zimmer kommen und es so sehen, wie es heute ist, und zur gleichen Zeit kann sie es sehen, wie es vor zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren war. Deshalb ist sie auch
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