Sizilien - eine Geschichte von den Anfaengen bis heute
sich die Bewohner auf das Orakel von Delphi, das einst ihrem König geraten hatte, eine Kolonie in Libyen zu gründen. Da die Theraier keine Ahnung hatten, wo Libyen lag, ließen sie den Orakelspruch auf sich beruhen. Damit aber zogen sie sich Apollons Zorn zu, und der Regen blieb aus.
In ihrer Not schickten die Theraier Gesandte nach Kreta, um Erkundigungen über das geheimnisvolle Libyen einzuholen. Ein Fischer geleitete schließlich einige von ihnen zu der Insel Platea vor dem afrikanischen Festland. Nach Thera zurückgekehrt „meldeten sie, sie hätten eine Insel an der Küste Libyens für die Ansiedlung besetzt. Die Theraier beschlossen, dass aus allen sieben Gemeinden der Insel immer je einer von zwei Brüdern auswandern solle. Führer und König |26| der Auswanderer sollte Battos sein. So gingen denn zwei Fünfzigruderer nach Platea ab“ (Herodot. IV. 153).
Herodots Bericht über die Gründung der griechischen Kolonie Kyrene ist natürlich von Legenden überwuchert. Herodot gibt hier Informationen über Geschehnisse wider, die zu seiner Zeit bereits 200 Jahre zurücklagen. Die Geschichte vermittelt aber doch ein anschauliches Bild von den Umständen einer Koloniegründung und den Schwierigkeiten, die sich den Siedlern entgegenstellten: Für das Unternehmen wurde ein Führer bestimmt und viele der Kolonisten verließen ihre Heimat unter Zwang. Das Orakel von Delphi spielte eine gewichtige Rolle als Informationsbörse; denn hier strömten Menschen aus der gesamten griechischen Welt zusammen und tauschten Erfahrungen und Wissen aus. Die siebenjährige Dürre, von der Herodot berichtet, dürfte für Nahrungsmittelknappheit stehen, die auf einer Insel wie Santorin besonders drückend war, die aber angesichts steigender Bevölkerungszahlen überall in Griechenland den Auswanderungsdruck erhöhte.
Der theraischen Koloniegründung in Nordafrika war zunächst kein Erfolg beschieden. Herodot berichtet weiter, wie die Siedler auf der Insel Platea bittere Not litten. So wandten sie sich abermals an das Delphische Orakel, das ihnen prompt zu verstehen gab, sie sollten ihr Glück auf dem afrikanischen Festland suchen. Dort gründeten sie Kyrene, das mit den Jahren immer mehr griechische Siedler aus allen Teilen des hellenischen Mutterlands anzog und zu einer florierenden Stadt heranwuchs. Auch zur Gründung weiterer Kolonien in Libyen riefen die Kyrenaier auf. Und wieder spielte das Delphische Orakel eine Schlüsselrolle, indem es allen Ratsuchenden denselben Spruch mit auf den Weg gab: „Wer nach Libyen einst, dem vielgeliebten, zu spät kommt / Wenn das Land schon verteilt ist, der wird es bitter bereuen!“ Den Einheimischen nahm man ihr Land kurzerhand weg, so dass die anfangs freundlichen Libyer Beistand bei den Ägyptern suchten, die prompt mit einem großen Heer heranzogen. In offener Feldschlacht errangen die Griechen von Kyrene einen überwältigenden Sieg: Die Kolonie hatte sich, gegen alle Widerstände, behauptet.
Ein Fehlstart, die Auseinandersetzung mit Einheimischen, weiterer Zustrom von Siedlern aus Griechenland und schließlich eine Landschaft blühender griechischer Poleis an fremden Gestaden: Eine ganz ähnliche Entwicklung nahmen, ohne dass wir um nähere Einzelheiten wüssten, viele der griechischen Neugründungen auf sizilischem Boden. Bezeichnend ist auch die Rolle, die Herodot dem delphischen Apollon-Heiligtum beimisst. Erst der Orakelspruch legitimierte die Gründung einer Tochterstadt in Übersee, wie das Beispiel des Spartaners Dorieus lehrt: Auch Dorieus versuchte sich an einer Koloniegründung in Libyen, |27| scheiterte aber, weil eine mächtige Allianz aus Karthagern und Einheimischen die Siedler vom afrikanischen Boden vertrieb (Herodot. V. 42). Dorieus hatte versäumt, das Delphische Orakel zu konsultieren.
Caspar David Friedrich, Der Juno-Tempel in Agrigent (Akragas).
Für den im 5. Jh. v. Chr. schreibenden Herodot (gestorben um 424 v. Chr.) war die Gründung Kyrenes im 7. Jh. ferne Vergangenheit. Die Erzählungen, die Herodot auf Reisen sammelte und zu seinem Bericht verdichtete, sind kaum mit der Latte von Historiographie im strengen Sinn zu messen. Am ehesten dürfte die prominente Rolle des Orakels die Bedeutung spiegeln, die Prophezeiungen allgemein immer dann spielten, wenn schwierige Entscheidungen von großer Tragweite anstanden. Und das galt für die Gründung einer Kolonie an unbekannter Küste allemal. Wer sich auf einen Orakelspruch berufen konnte, hatte einen
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