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Sizilien - eine Geschichte von den Anfaengen bis heute

Sizilien - eine Geschichte von den Anfaengen bis heute

Titel: Sizilien - eine Geschichte von den Anfaengen bis heute Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Reinhardt , Michael Sommer
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gewaltigen Autoritätsbonus, den er bei kontroverser Interessenlage in die Waagschale werfen konnte.
    Delphi legitimierte aber nicht nur einmal getroffene Entscheidungen, es half |28| auch bei der Findung von Problemlösungen. Bei aller Irrationalität, die bei der Kunst des Prophezeiens unweigerlich im Spiel war, war Delphi doch auch die bei weitem größte panhellenische Informationsbörse. In dichterer Folge als in anderen Heiligtümern mit überregionaler Bedeutung gaben sich in Delphi Gesandtschaften und Pilger aus der gesamten griechischen Welt – und dem Vorderen Orient – buchstäblich die Türklinke in die Hand. Selten behielten sie ihr Wissen für sich. Wollte jemand an stichhaltige Informationen über Gegenden gelangen, die jenseits seines eigenen Erfahrungshorizontes lagen, war Delphi der ideale Ort, um mit einschlägig versierten Informanten in Kontakt zu treten.
    So wies Delphi auch den Weg nach Sizilien, jedenfalls der Überlieferung nach: Der Korinther Archias reiste zum Orakel, um nach einem günstigen Ort für eine Koloniegründung zu fragen. Dort wurde ihm folgender Ratschlag zuteil: „Ortygia liegt im dämmernden Meer / Über Trinakria, wo des Alpheios’ Mündung aufsprudelt, / Sich mischend mit den Quellen der schön fließenden Arethusa“ (Paus. V. 7, 3). Ortygia ist die Insel, auf der sich noch heute das Stadtzentrum von Syrakus befindet, der bedeutendsten Stadt des griechischen Sizilien. Ihr spendet die Quelle Arethusa Wasser: Erst sie machte das Eiland vor der Küste des sizilischen Dreiecks zu einem sicheren Ort, der notfalls Belagerungen widerstehen konnte. Die Sage wollte es, dass Arethusa, die mythische Jägerin, vor dem liebestollen Alpheios, auch er ein Jäger, nach Sizilien floh. Auf Ortygia wurde sie in eine Quelle verwandelt. Alpheios nahm daraufhin die Gestalt des gleichnamigen Flusses in Arkadien an und floss – so glaubten die Griechen – unter dem Meer hindurch bis nach Ortygia, wo er sich mit Arethusa vereinigte.
    Schön wie diese Geschichte ist, hatte der Rat des delphischen Apollon doch auch eine ganz pragmatische Dimension: Die kleine, leicht zu verteidigende Insel Ortygia war der perfekte Landeplatz für Kolonisten, die kaum auf freundliches Entgegenkommen der Einheimischen zählen konnten. Die tiefe Bucht, die Ortygia kontrollierte, bot den besten natürlichen Hafen ganz Siziliens. Die Korinther waren also gut beraten, für ihre Koloniegründung Ortygia zu wählen. Der Geograph Strabon berichtet, wie sich Archias unterwegs andere Hellenen anschlossen, um an der Koloniegründung teilzuhaben. Auch dies war ein charakteristisches Element der griechischen Expansion: Initiiert wurde die Gründung in der Regel von einer Stadt; organisiert wurde sie von einem Privatmann, der als Generalunternehmer auftrat, die Expedition anführte und meist nach der Gründung, gestützt auf seine Autorität als
ktistes
(,Gründer‘) oder
oikistes
(,Kolonisator‘), die neue Stadt mehr oder weniger monarchisch regierte; anschließen konnten sich dem Projekt dann auch andere Griechen, |29| wobei freilich die Kolonisten aus der Mutterstadt kulturell und politisch den Ton angaben.
    Athen und Sparta, die späteren Hegemonialmächte des klassischen Griechenland, waren bei der von ca. 750 bis 550 dauernden Erschließung eines kolonialen Raumes, der von Sizilien bis tief ins Schwarze Meer reichte, weitgehend auf die Rolle von Zaungästen beschränkt. Die Avantgarde in diesem dynamischen Prozess waren andere Kräfte: neben Korinth und den euboischen Städten Chalkis und Eretria vor allem Milet an der Westküste Kleinasiens, das ebenfalls anatolische Phokaia, das kleine Megara am Saronischen Golf, das bald im Schatten Athens stand, und die nur schwach urbanisierten Landstriche der nordwestlichen Peloponnes, besonders Achaia. Viele dieser Akteure hatten – wie die Euboier, die Pithekoussai gründeten – erheblichen Anteil am eisenzeitlichen Fernhandel und waren so auf Gewinnchancen aufmerksam geworden, die in der Fremde lockten. Als im griechischen Mutterland ein immer größerer Bevölkerungsdruck den Landhunger ins Unermessliche wachsen ließ, konnten diese Griechen ihr Know-how ausspielen und die Expansion in Übersee anführen.
    Die Verfrachtung unzähliger Menschen – Männer – in Übersee und die koloniale Gründungswelle, die über die Küsten von Mittel- und Schwarzmeer schwappte, veränderten die gesamte antike Welt von Grund auf. Von den Auswirkungen, welche die Ankunft der Griechen

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