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Sizilien - eine Geschichte von den Anfaengen bis heute

Sizilien - eine Geschichte von den Anfaengen bis heute

Titel: Sizilien - eine Geschichte von den Anfaengen bis heute Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Reinhardt , Michael Sommer
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niedergelassen haben. Das Erscheinungsbild der indigenen Siedlungen unterschied sich markant von der auf dem Reißbrett geplanten Rechtwinkligkeit griechischer Niederlassungen: Runde und ovale Häuser waren meist lose über die Siedlungsfläche verstreut.
    Doch lassen sich Grenzen zwischen ,griechisch‘ hier und ,indigen‘ dort nicht immer mit letzter Gewissheit ziehen. Die Archäologie vermag uns Aufschluss zu geben über die Lebensweise von Menschen, ihre Wohnverhältnisse und bestimmte soziale Ordnungsvorstellungen, die sich in der materiellen Kultur |33| spiegeln; zur Frage ihrer ethnischen oder kulturellen Zugehörigkeit – ihrer ,Identität‘ – bleiben archäologische Zeugnisse meist stumm. Wer etwa in den Häusern der Siedlung Monte San Mauro di Caltagirone im Hinterland von Gela wohnte, lässt sich kaum klären: Archäologen stießen hier auf vier ,Pastashäuser‘, ein charakteristischer, in Nordgriechenland, aber auch auf Sizilien verbreiteter Wohnhaustypus mit einer Flucht von Räumen, die sich auf einen Hof oder Korridor |34| öffnen. Wohnten in Monte San Mauro also Griechen? Verschiedene Indizien scheinen dagegen zu sprechen: Kochinstallationen und die Anordnung großer Vorratsgefäße (
pithoi
) verraten einheimische Traditionen; ebenso das Fehlen gepflasterter Böden. Andererseits gehörten zur Ausstattung Hausaltäre (
arulae
), wie sie typisch sind für Griechenland. Mehrheitlich griechisch ist die Keramik aus Monte San Mauro; griechisch sind die Dachterrakotten eines Heiligtums; und griechisch ist vor allem der – in ionischem Dialekt und chalkidischer Schrift abgefasste – Gesetzestext, dessen Fragmente sich auf Bronzetafeln im Tempelbereich fanden. Am ehesten noch wohnten in San Mauro Griechen, die von Kolonisten aus Euboia abstammten, aber bereits einige Sitten und Gebräuche der Einheimischen angenommen hatten.

    |33|  Torso eines Kouros. Griechische Plastik aus dem 6. Jahrhundert vom Apollon- oder Athena-Tempel in Syrakus.
    |34| Insgesamt lief der Zustrom griechischer Siedler nicht einfach auf eine Hellenisierung der Insel hinaus – und auch nicht auf ein schroffes Gegeneinander Zuwanderer – Einheimische. Vielmehr mündete die griechische Besiedlung Siziliens in eine Gemengelage aus kolonialen und indigenen Elementen: Der israelische Althistoriker Irad Malkin nennt das einen
middle ground
– eine Zone, in der beide Seiten Rollen spielten, die sich danach richteten, wie sie von der jeweils anderen Seite wahrgenommen wurden.
    Einen Rahmen für die jeweils eigene Standortbestimmung in diesem schillernden Kosmos aus ethnisch-kultureller Heterogenität, Selbst- und Fremdwahrnehmungen lieferte die Welt von Sagen und Erzählungen: Nicht von ungefähr ist der griechische Mythos voll von Reisenden – Odysseus und der Held des Argonautenepos, Jason, sind nur die berühmtesten Beispiele. Die Themen, Helden und Geschichten des Mythos gelangten mit den Kolonisatoren auch nach Sizilien; aber sie boten bald auch den Einheimischen Anknüpfungsmöglichkeiten, um ihren Ort in der durch den Mythos abgesteckten Welt zu definieren. Und so wuchsen die „Barbaren“ Siziliens Schritt für Schritt in die griechische Zivilisationsgemeinschaft der
oikoumene
hinein.
    Am klarsten treten die Konturen dieses Prozesses hervor, wenn wir der Geschichte ein wenig vorgreifen und unser Augenmerk auf die sogenannte Sikelerrevolte richten, die ab 459 v. Chr. ganz Zentralsizilien erfasste: Eigentlich handelte es sich um eine – von dem Sikeler Duketios angeführte – Bewegung zur politischen Einigung der sikelischen Siedlungsräume in Zentralsizilien, die aber bald in Expansion umschlug und Akragas in arge Bedrängnis brachte. Duketios, der als Zentrum seines Machtbereichs die Stadt Menai gegründet hatte, wurde 450 v. Chr. von Syrakus geschlagen und ins Exil nach Korinth gezwungen; er kehrte aber zurück und nahm einen zweiten Anlauf zu einer sikelischen Koloniegründung in Kale Akte an der Nordküste. Der Sikeler mobilisierte geschickt |35| antigriechische Ressentiments unter den Sikelern und ließ seine Truppen unter der Fahne sikelischer Freiheit marschieren, aber sein politisches Agieren verrät die Vertrautheit mit griechischen Gepflogenheiten. Nicht von ungefähr setzte er für sein Projekt auf die Polis als spezifisch hellenische Variante gesellschaftlicher Organisation.
    Neu-Städte
    Poleis waren denn auch das markanteste Merkmal griechischer Präsenz auf sizilischer Erde. Die autonom sich verwaltende

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