Sizilien - eine Geschichte von den Anfaengen bis heute
diejenigen, die die Aufspaltung von Gesellschaft und Politik in rivalisierende Klientelsysteme anprangerten, selbst nach oben, begünstigten sie ebenso selbstverständlich und im Bewusstsein, moralisch vorbildlich zu handeln, ihre eigenen Gefolgsleute.
Als Feinde dieser Ordnung galten demnach diejenigen, die aus allen Netzwerken herausfielen und daher aus der Gemeinschaft der gesetzestreuen Bürger |134| ausgeschlossen waren: die
banditi
. Diesen Namen mit „Banditen“ zu übersetzen, würde der Komplexität des Phänomens und der Zusammensetzung dieser bevölkerungsreichen Gruppe nicht gerecht werden. Durch ein öffentliches
bando
, Plakat, zur Verfolgung ausgeschrieben werden (so die Grundbedeutung von
bandito
) konnte man aus einer Vielzahl von Gründen. Das geschah am häufigsten, wenn man sich den herrschenden Gewalten gegenüber in irgendeiner Form als widersetzlich erwiesen hatte, also durch Abgabenverweigerung oder Nichtakzeptanz baronaler Urteilssprüche, bzw. dann, wenn man das Gesetz in die eigene Hand genommen und dabei die Interessen einflussreicher Kreise oder auch nur von deren Schützlingen verletzt hatte; ebenso fanden sich Söldner, die ihre Entlassung nicht hinnahmen und, zu Banden zusammengeschlossen, auf eigene Faust weiterkämpften, häufig als
banditi
wieder. In den Augen breiter Schichten waren diese daher keine Verbrecher, sondern Ausgestoßene, denen ihre Ehre wichtiger war als Angepasstheit. Ehrlos wurde deshalb, wer sie der Obrigkeit verriet – die legendäre
omertà
, Verschwiegenheit, der Mafia hat hier ihre fernen Ursprünge. Im Bemühen, sie aufzubrechen, erwiesen sich die Vizekönige als erfinderisch. Wer einen „Banditen“ anzeigte, gewann das Recht, selbst einige der
outlaws
zu begnadigen, wechselte also zumindest zeitweise von unten auf die Seite der Mächtigen über. So verlockend diese Belohnung für Denunziationen auch war, das entgegenstehende Gesetz, nichts gesehen und gehört zu haben, erwies sich dennoch als das stärkere; zudem musste dieser Handel mit der Justiz Rechtsprechung und Richter noch stärker als ohnehin schon diskreditieren. Dementsprechend flexibel war die Grenzziehung – in den zahlreichen Fehden der Barone untereinander bildeten die „Verbannten“ ein ebenso unerschöpfliches wie unverzichtbares Rekrutierungs-Reservoir.
Wenig von all dem ist im 16. Jh. typisch oder gar ausschließlich sizilianisch. Das gilt auch für viele weitere Merkmale, die „den Sizilianern“ in der florierenden Literaturgattung „So sind die verschiedenen Nationen Europas“ zugeschrieben wurden. In diesen frühnationalistischen Kollektivporträts stechen drei angebliche Charakteristika der Inselbewohner hervor: ihr Hang zur Gewalt, die Kleinräumigkeit ihrer Loyalitäten und die daraus resultierende Neigung zu unablässigen Kämpfen Dorf gegen Dorf oder auch nur Familie gegen Familie, und schließlich, Summe des ganzen Katalogs, die Besessenheit, mit der sie ihre Ehre verteidigen, notfalls mit Blut. Zusammengenommen bildet diese Auflistung ein brisantes Ganzes. Kein Wunder, dass daraus die Handlungsanweisung an die Mächtigen folgt, an die bestehenden Verhältnisse so wenig wie möglich zu rühren – die Konsequenzen könnten sich schnell als unabsehbar erweisen. In diesem Sinne berichteten die spanischen Vizekönige denn auch an ihren Herrn in |135| Madrid. Auf der anderen Seite hoben sie die Treue gegenüber dem König und die tiefe, manchmal allerdings auch bizarre Formen annehmende Frömmigkeit des Volkes hervor. Dieses Bild verdichtete sich zu einem Stereotyp nicht nur der Herrschaftslehre, sondern mit der Zeit auch der Moralistik und der Romanciers: Sizilien, die tragische Insel, in der ebenso authentisches wie fehlgeleitetes Ehrgefühl zu nicht abreißender Blutrache, Verschwörungen und Geheimgesellschaften sowie andauernder Opposition gegen den Staat führt.
Aus der Perspektive der kleinen Leute selbst betrachtet, war das alles weder „abergläubisch“ noch gesetzlos, sondern die logische Antwort auf Verhältnisse, an deren Veränderbarkeit niemand glauben konnte. In einer Gesellschaft, für die der Wille des Patrons Gesetz war, musste man sich auch das Jenseits klientelär organisiert vorstellen. In den Netzwerken des Himmels forderten die Heiligen von ihren noch unter den Lebenden weilenden Gefolgsleuten genauso wie die irdischen Mächtigen Dienste ein. Geleistet wurden sie in Form von Gebeten, Anrufungen, Dankabstattungen, Gaben, Reverenz, mit einem Wort:
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