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Sizilien - eine Geschichte von den Anfaengen bis heute

Sizilien - eine Geschichte von den Anfaengen bis heute

Titel: Sizilien - eine Geschichte von den Anfaengen bis heute Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Reinhardt , Michael Sommer
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all diesen Vorzeichen bildete sich in Sizilien eine Volkskultur aus, deren Reichtum und Fremdheit die Reisenden aus Mitteleuropa seit dem 18. Jh. |137| bestaunten. Dabei waren die Verbindungslinien zur „großen“ Kultur der Eliten unübersehbar. So lebten in den Vorstellungswelten und Medien der kleinen Leute – unter denen die Marionettenbühne einen herausragenden Platz einnahm – historische Gestalten wie die beiden Roger fort: zu übermenschlichen Recken verklärt, die die als unbesiegbar geltenden Araber verjagt hatten, und als Hüter der Gerechtigkeit gepriesen, wie sie die Folgezeit nicht mehr hervorgebracht hatte. Doch auch literarische Stoffe wie der Roland-Sagenkreis in seinen vielen, bis ins 16. Jh. reichenden Bearbeitungen wurden begierig aufgegriffen und eigenständig weitergesponnen: als das Aufeinandertreffen von Gut und Böse, Edelmut und Hinterlist, Großherzigkeit und Verrat. Doch auch politisch hatten die unteren Schichten klare Vorstellungen von Recht und Unrecht. Macht war so lange von Gott, wie sie die Armen schützte. Das hieß konkret, den Besitzlosen in der Stadt – weit über 50 % der Einwohner – erschwingliches Brot zu verschaffen, und zwar auch in Zeiten der Teuerung und Knappheit; anderenfalls war es deren natürliches Recht, sich ihr Überleben selbst zu erkämpfen, sei es durch Beschlagnahmung von Korn, sei es durch Plünderung von Magazinen und Bäckerläden. Gehorsam gegen Subsistenzsicherung – das hieß auf dem Lande, leicht abgewandelt, dass der Feudalherr seinen bäuerlichen „Vasallen“ in Zeiten der Not uneigennützig auszuhelfen hatte, mit Saatgut und in schwerster Bedrängnis auch mit Almosen. Diesen für weitere Kreise unverbrüchlichen Pakt konnten die Herrschenden – ob Vizekönig oder Adelige – alleine nicht einhalten. Um diesen Forderungen auch nur näherzukommen, waren sie auf die Unterstützung von Kirchen und Klöstern angewiesen. Diese waren nicht nur in Krisenzeiten die Anlaufstellen der Hungernden. Ihr ausgedehnter Besitz wurde daher bis ins 19. Jh. hinein von den kleinen Leuten weit weniger kritisiert als von bürgerlichen Aufklärern, die die Unproduktivität der klerikalen Latifundien und die davon ausgehende „Erziehung zur Faulheit“ anprangerten. Mehr noch: Wer sich an den Gütern der Kirche vergriff, versündigte sich in den Augen des Volkes an Gott. Gegen solche Frevler aber waren alle Formen des Widerstands, und seien sie noch so blutig, erlaubt, ja geboten.

|139| XIII  Im Zeichen des Korns
    Im Laufe des 16. Jh. geriet auch Sizilien in den Sog eines europaweiten Wirtschaftsaufschwungs mit entsprechender Zunahme der Bevölkerung. Die am Anfang des 21. Jh. abgeschlossene Auswertung der kirchlichen Register lässt dieses demographische Wachstum eindrucksvoll hervortreten. Zählte die Insel um 1500 gut eine halbe Million Einwohner – ein auf die Fläche hochgerechnet in Europa klar unterdurchschnittlicher Wert –, so hatte sich diese Zahl ein Jahrhundert später nahezu verdoppelt (das galt im Übrigen nicht nur für die Zahl der Laien, sondern auch für die gesondert aufgeführten Personen geistlichen Standes, die jeweils etwa 4 % der Gesamtbevölkerung ausmachten). Durch diesen überall zu beobachtenden Trend waren die Regierenden vor schwierige, oft unlösbare Aufgaben gestellt: Wie sollte man so viele Menschen ernähren, und dann noch zu erschwinglichen Preisen? Die üblichen Rezepte lauteten: Kornhäuser bauen, um dort öffentliche Reserven für schlechte Jahre aufzuheben, Einfuhren erleichtern und notfalls, wenn es hart auf hart kam, Preise regulieren – was allerdings schnell das Ende aller Importe zur Folge hatte.
    Sizilien hingegen ging eigene Wege – nach der langen Zeit der Wüstungen war jetzt die Ära der Binnenkolonisierung angebrochen. Auf diese Weise entstanden bis zum Anfang des 18. Jh. über einhundert neue Siedlungen (davon allein 88 zwischen 1583 und 1663), und zwar alle nach demselben Muster: Der Feudalherr beantragte beim König für den ins Auge gefassten Landbesitz eine sogenannte
licentia populandi
(wörtlich: Lizenz zum Bevölkern) und investierte nach deren Erhalt beträchtliche Summen in den Aufbau einer örtlichen Infrastruktur: Kirche, Magazin, Mühle, Backofen, Gefängnis, um nur die wichtigsten Bauten zu nennen. Auch die Wohnhäuser wurden in der Regel ganz oder zum überwiegenden Teil auf seine Kosten errichtet. Stand der neue Ortskern, fehlten nur noch die „Vasallen“, die hier leben und die Rendite

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