Sizilien - eine Geschichte von den Anfaengen bis heute
durch die Erweisung von Ehre. Der Protektion der Heiligen aber musste man sich aufgrund der permanenten Unsicherheiten im Alltag um jeden Preis vergewissern; ihre Fürsprache schützte gegen die Unbill und die Unberechenbarkeiten von Ernte, Krankheiten, Gewalt und Krieg. Gegen sie wappnete man sich auf Erden am besten, wenn man auf die kleinste unteilbare Einheit, die Familie, und ihre organische Erweiterung, die nützlichen Freunde, vertraute. Die Familie ist deshalb das Maß aller Dinge. Nicht auf die Größe des Einzelnen, sondern auf den dauerhaften Aufstieg des engsten Verwandtschaftsverbands sind alle Anstrengungen gerichtet. Umgekehrt bedeutet das, dass wer einem Einzelnen die Ehre abspricht, alle zusammen tödlich beleidigt – umso fataler, wenn der Zusammenhalt von innen heraus, z. B. durch Ehebruch oder Denunziation, aufgebrochen wird. Die Werte der Aristokratie galten so auch in den unteren Schichten der Gesellschaft. Wie der in seiner Ehre gekränkte Adelige den Affront im Duell wettmachte, so rächte sich der Beleidigte aus dem Volk auf seine Weise: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Wo der Staat kein Gewaltenmonopol besitzt, weil er dazu weder die ideologischen, moralischen noch bürokratischen Voraussetzungen aufweist, ist jede Gesellschaft notwendigerweise gewalttätig, dafür legen alle Delinquenzstatistiken Europas in der Neuzeit eindrucksvolles Zeugnis ab. Kriminalität ist ebenso gesetzmäßig dort am höchsten, wo sich das zentrifugale Element, im Falle Siziliens die Macht des Feudaladels, am ausgeprägtesten zeigt.
Zum eigentlichen „Sonderfall“ wurde Sizilien in dieser Hinsicht jedoch erst im Laufe des 19. und 20. Jh., als es auch dem jetzt viel stärker ausgebildeten Staat nicht gelang, die alleinige Verfügung über Justiz, Strafverfolgung und Verurteilung |136| zu gewinnen. Zudem blieb das aristokratische Lebensideal auf der Insel über das Ancien Régime hinaus, bis in den auf der theoretischen Gleichheit aller Bürger beruhenden demokratischen Verfassungsstaat hinein erhalten. Dieses ungebrochene Bestreben, zu den Herrschenden zu gehören und sich mit den entsprechenden Attributen der Exklusivität zu versehen, wurde schon von süditalienischen Aufklärern des 18. Jh. auf historische Fehlentwicklungen zurückgeführt. Ein schweres Manko war in ihren Augen das Fehlen reformatorischer Bewegungen im Stile Calvins, die Disziplin, Pflichtbewusstsein und die Gleichheit aller Menschen vor Gott einschärften und so das aristokratische Menschenbild mit seinen vermeintlich höheren Wesenszügen irreparabel zerstörten. Ebenso verhängnisvoll waren für sie das jahrhundertealte Vorbild ungestrafter Adels-Arroganz und der lähmende Einfluss spanischer Arbeitsverachtung. Ergänzend zu diesen bis heute hartnäckigen Stereotypen ist hinzuzufügen, dass es in Sizilien – im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten – keine Leitbilder erfolgreicher oder gar hegemonialer Bürgerlichkeit gab, an denen sich alternative Werte hätten ausbilden können.
Im Gegenteil: Für die kleinen Leute war der Rechtsanwalt ein Rechtsverdreher, der Kornhändler ein Getreidewucherer, der Güterverwalter ein Abgabenerpresser. Und allesamt waren sie verabscheuungswürdiger als der verhassteste Feudalherr – die Möchtegern-Parvenüs wollten selbst adelig erscheinen und waren doch nur Blutsauger und Wucherer. Länger als im übrigen Europa blieb in Sizilien auch ein weiteres Merkmal frühneuzeitlicher Volksmentalitäten erhalten: die religiöse Einfärbung der Weltsicht und damit eine leicht entflammbare Endzeiterwartung – noch zu Beginn des 20. Jh. fanden sozialistische Umzüge hinter roter Fahne und Kruzifix zugleich statt. Furcht und Hoffnung, dass der Antichrist auf Erden erschienen ist und nach seiner Niederringung Christus wiederkehren und tausend Jahre lang mit seinen Getreuen auf Erden weilen wird, waren seit den Krisenzeiten des Kampfes zwischen den Häusern Aragón und Anjou nicht mehr verschwunden, sondern flackerten in sozialen Unruhen regelmäßig auf. Wenn man aber glaubte, der Ankunft Christi den Weg bereiten zu müssen, war die Ausrottung des Bösen, wie es sich in den Weiderechts-Räubern des Nachbardorfes manifestierte, erstes Gebot. Zu dieser apokalyptischen Erregung trug ebenfalls bei, dass sich Sizilien mit der Ausbreitung des osmanischen Imperiums im Frontbereich der christlichen und muslimischen Mächte befand und entsprechend häufig durch feindliche Einfälle an seinen Küsten bedroht war.
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