Sizilien - eine Geschichte von den Anfaengen bis heute
zum Erliegen. Das lag zum einen daran, dass der anfängliche Reformeifer der habsburgischen Beamten in dem Maße nachließ, in dem die Eliten ihre bewährten Verzögerungs- und Obstruktionstaktiken zur Anwendung brachten. Zudem wurden jetzt alle Kräfte im Polnischen Erbfolgekrieg gegen Frankreich benötigt, in dem die sieggewohnten Habsburger schwere Niederlagen erlitten und zeitweise fast ihre gesamten italienischen Besitzungen einbüßten. So zog der Bourbonenprinz Karl im Mai 1734 als Sieger in Neapel ein, woraufhin ihm Sizilien weitgehend kampflos in den Schoß fiel. Sollten die palermitanischen Adeligen, die den neuen Herrn schon vor der Machtübernahme |159| beglückwünschten und willkommen hießen, auf eine neue glanzvolle Insel-Monarchie mit aufwendigem Hof gehofft haben, so wurden sie schnell eines Besseren belehrt. Karl ließ sich zwar in Palermo und nicht, wie befürchtet, in Messina zum König krönen, doch reiste er schon wenige Tage später nach Neapel ab, wo die neue, im Frieden von Wien 1738 bestätigte Dynastie ihre Residenz auf Dauer einrichtete. So hatte wieder einmal die verhasste Stadt am Vesuv das Rennen um den Vorrang im Süden gemacht, schlimmer noch: Sizilien wurde jetzt, obwohl als eigenständiges Königreich weiterhin anerkannt, vom Festland aus regiert. Zumindest in der Theorie. De facto änderte sich auf der Insel unter bourbonischer Herrschaft wenig. Karl III., wie der neue Monarch nummeriert wurde, erwies sich zwar als intelligenter, fleißiger und pflichtbewusster Reformherrscher, doch kamen seine Talente vor allem Spanien zugute, auf dessen Thron er 1759 überwechselte. Von seinen vielfältig blockierten Neuerungen blieben auf der Insel nur wenige Spuren. Ja, Karl selbst musste in Anbetracht unüberwindlichen Widerstands seine wichtigsten Neuerungen im Bereich der Justiz und die Wiederzulassung der Juden zurücknehmen.
|161| XVI Revolution von oben
1759 fiel die Herrschaft über Süditalien an seinen Sohn Ferdinand, in Sizilien der dritte, in Neapel der vierte König dieses Namens. In seiner 66-jährigen Regierung, doch ohne sein Zutun, wurde Neapel zusammen mit Mailand zur intellektuellen Hauptstadt Italiens. Schon seit Beginn des 18. Jh. hatten sich am Vesuv unter Anknüpfung an ältere staatsrechtliche Traditionen juristische, historische und ökonomische Strömungen und Schulen ausgebildet, deren Vordenker wie Pietro Giannone in der ersten und Antonio Genovesi in der zweiten Generation die Unhaltbarkeit der sozialen und politischen Zustände in Italien, speziell im Süden der Halbinsel und vor allem in Sizilien verkündeten. Für diese Rückständigkeit des Mezzogiorno (wörtlich: „Mittag“) in einem insgesamt gegenüber seiner großen Vergangenheit zurückgefallenen, ja lethargischen Land machten die Wortführer der neapolitanischen Aufklärung zwei Hauptmächte der Finsternis verantwortlich: die Kirche und den Feudalismus. Kleriker und Barone hätten sich zu einer unheiligen Allianz mit dem Ziel verschworen, das Volk unwissend, in seinen abergläubischen Vorurteilen befangen zu halten, das Aufkommen einer freien öffentlichen Meinung zu verhindern, damit die Ausbildung einer sich nach den Prinzipien der Vernunft und Leistung selbst regulierenden Zivilgesellschaft zu unterbinden und jegliche ökonomische Innovation als Gefährdung ihrer Vorherrschaft abzuwehren. Diese immer radikaleren Anklagen zielten letztlich darauf ab, dass die Nation und mit ihr der Staat zum Privatbesitz einer Clique und der König zu deren Komplizen geworden sei. Heilmittel gegen so tief eingerissene Missstände konnte nur eine Revolution von oben sein: Die Befreiung von der alles erdrückenden Vorherrschaft der Kirche, die sich im Laufe der Jahrhunderte so viele Kompetenzen erschlichen hatte, dass für den Staat nur noch ein Schatten der öffentlichen Gewalt übrig blieb, war der erste Schritt, die Abschaffung der baronalen Herrschaftsrechte der zweite. An die Stelle der morschen alten Gewalten hatte dann endlich eine aufgeklärte Reform-Monarchie |162| zu treten, die durch die Förderung des öffentlichen Unterrichts das vom feudalen Despotismus verformte Volk zu den wahren Werten Fleiß, Bildung, Sparsamkeit und Fortschritt erziehen würde.
Mit ihrer Kritik an den herrschenden Schichten trafen die Aufklärer – einsichtige Adelige und Kleriker selbst leugneten es nicht – mancherlei Missstände. In einem Punkt aber irrten sie sich gründlich: Die kleinen Leute lechzten keineswegs danach,
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