Sizilien - eine Geschichte von den Anfaengen bis heute
sich unter der Führung einer neuen, bürgerlichen Elite zu deren Ebenbild veredeln zu lassen. Was sie wollten, ließ sich viel knapper zusammenfassen: die alten Freiräume vom Staat, notfalls gegen den Staat, billiges Brot und erträgliche Abgaben. Das aber hieß: im Zweifelsfall und speziell im Konfliktfall gegen Experimente und für das alte System. Dieses war nicht gut, doch das war in einer so unvollkommenen Welt auch nicht zu erwarten; vor allem aber waren die Alternativen, die sich am historischen Horizont abzuzeichnen begannen, sehr viel schlechter. Grausame Enttäuschungen und blutige Kämpfe standen denen bevor, die sich als wahre Freunde des Volkes dazu berufen glaubten, dieses vom Joch des Feudalismus zu befreien.
Von diesen Ideen blieb Sizilien lange Zeit weitgehend unberührt. Andere Trends des 18. Jh. hingegen erreichen auch die Insel in ihrer relativen Abgeschiedenheit. So nahm die Bevölkerung nach langer Stagnation wieder zu: von gut einer Million Einwohner am Anfang wie am Ende des 17. Jh. auf anderthalb Millionen um 1800. Dieser neue Zuwachs hatte wie überall in Europa am Ende des Ancien Régime alte, von optimistischen Ökonomen fälschlich für überwunden gehaltene Probleme zur Folge: zu wenig Korn bzw. Brot für zu viele Münder. In Neapel und Umgebung kostete 1763 eine erste, schwere Versorgungskrise des alteuropäischen Typs, die infolge der Brotknappheit zu fehlender Nachfrage in Handwerk und Gewerbe, Massenarbeitslosigkeit und Massenelend führte, Zehntausende das Leben. 1773 war Palermo an der Reihe. Als auch in dieser inzwischen mit an die 200 000 Einwohnern zweitgrößten Stadt Italiens der Brotpreis bedrohlich anstieg, kam es zu den gewohnten Unruhen und in deren Folge zu den gleichfalls hinreichend bekannten sozialen Auseinandersetzungen. Diesmal ging der Anstoß zum Aufstand von ganz unten aus, doch wurde er vom Adel geschürt, der mit dem Vizekönig Fogliani einige Rechnungen offen hatte – dieser hatte es gewagt, Luxussteuern zu erheben und weitere Privilegien der Oberschicht zu beschneiden. So kämpften die kleinen Leute jetzt gleichzeitig für billigeres Brot und steuerfreie Seidenstoffe. Als Ordnungsmacht zwischen bzw. über den Parteien konnten sich so, wie gehabt, die
maestranze
profilieren – bis sich ihre Führer wegen der unterschiedlichen Zunft-Vorrechte in die Haare gerieten und die Aristokratie ihre Vorherrschaft wiederherstellte.
|163| Wie ein tropischer Garten Eden sieht die ländliche Umgebung Palermos auf dieser Ansicht des 19. Jh. aus.
Zeichen einer neuen Zeit stellten sich auf der Insel erst 1781 ein, als mit dem Marchese Domenico Caracciolo ein neuer Vizekönig bislang unbekannten Zuschnitts als Statthalter des Königs in Palermo amtierte. Er entstammte einer der führenden Adelsfamilien Neapels, die sich seit dem 15. Jh. stärker als ihre Standesgenossen auf der Höhe der europäischen Kulturentwicklung gezeigt und dementsprechend Humanisten und Theologen, jetzt, im Zeitalter Voltaires, aber Aufklärer hervorgebracht hatte. Als solcher war Caracciolo entschlossen, den neuen Geist der Empirie, Vernunft und Leistung auch auf der Insel zur Geltung zu bringen, wo Klerus und Adel dessen Einsickern bislang verhindert hatten. Reform hieß auf einer Insel, wo nur die Ärmsten am Grunde der Gesellschaft keinerlei Sonderrechte genossen, Privilegien zu beschneiden: Privilegien der Stände, der Städte, der Korporationen und Regionen.
Dabei sah sich Caracciolo und sein moderaterer Nachfolger ab 1786, der Fürst von Caramanico, wie alle Reformer am Vorabend der Französischen Revolution mit grundlegenden Problemen, ja Widersprüchen konfrontiert. Wer Sonderrechte |164| reduzieren wollte, musste sich auf besseres älteres Recht berufen. Das aber war eine Argumentationsform, die dem politischen und historischen Denken der Aufklärung diametral widersprach: Die Geschichte war überall durch den Eigennutz der Eliten aus der vernünftigen Bahn geworfen, es galt, sie durch die überzeitliche Vernunft wieder zu begradigen. Im Namen der Vernunft aber ließ sich nur eine Abschaffung aller durch Geburt erworbenen Privilegien dekretieren; einen Teil von ihnen zu tilgen und den anderen beizubehalten, widersprach dieser Logik. Eine privilegienlose, vom Grundsatz der Rechts- und Chancengleichheit geprägte Gesellschaft herbeizuführen, hätte jedoch bedeutet, die Grundlagen der Monarchie selbst in Frage zu stellen – wie konnte man mit Vernunft allein die Herrschaft eines
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