Skalpell Nr. 5
seine gebeugte Silhouette sofort. Er stand unter einer Straßenlampe und studierte irgendwelche Papiere, die er offensichtlich aus der Aktentasche zu seinen Füßen gezogen hatte. Er war ganz sicher nicht noch rasch nach Hause gefahren, um sich umzuziehen. Sein Anzug war zerknittert, und die Haare hatte er sich vermutlich schon seit seiner Aussage im Carramia-Prozess nicht mehr gekämmt.
Sie schlich sich von hinten an ihn ran. »Guten Abend.«
Hastig verstaute er die Papiere und sah sie an. »Ms. Manfreda, danke, dass Sie gekommen sind.« Er sah sie verwundert an. »Hatten Sie nicht rote Haare?«
»Diese Woche bin ich blond«, erklärte sie achselzuckend. »Passt besser zu meiner neuen Tasche.« Sie präsentierte ihm eine übergroße rote Handtasche mit Lederbesatz und goldenem Verschluss. »Vuitton. Stand schon seit neun Monaten auf meiner Wunschliste.«
Er starrte zuerst die Tasche an, dann sie. Wie verrückt muss ein Mensch sein …? Ein sehr attraktiver Mensch, wie er zugeben musste. Ihr Haar sah toll aus und passte wunderbar zu der Tasche und zu ihrem lila-roten Tweedkostüm. Sie hatte eine kurvenreiche – üppige – Figur, anders als die magersüchtigen Frauen im Fernsehen und auf den Straßen von Manhattan, die alle so aussahen, als könnten sie dringend ein großes Eis mit Schlagsahne gebrauchen. Die Farbe ihrer Augen lag irgendwo zwischen Blau und Grau, und ihr klarer Teint verlangte geradezu nach dem üblichen Vergleich mit Porzellan. Zumindest trug sie kein dickes Make-up. Eines hatte er am Obduktionstisch nämlich gelernt: Zu viele Frauen waren unzufrieden mit den Gaben, die die Natur ihnen geschenkt hatte.
»Stimmt was nicht?«, fragte sie.
Er wurde rot, weil er merkte, dass er sie zu lange und zu intensiv angestarrt hatte. »Das mit der Tasche und der Haarfarbe leuchtet mir ein.«
»In welches Restaurant gehen wir?«
»Restaurant?«
»Ja. Kenneth hat gesagt, wir würden uns hier treffen und auf dem Weg zum Restaurant über den Fall reden.«
Er griff nach seiner Aktentasche. »Ehrlich gesagt, ich hab keine Ahnung.«
»Dann such ich was aus, natürlich einen Italiener«, sagte sie munter. »Scalinatella. An der Einundsechzigsten, zwischen Third und Second Avenue.«
»Prima.« Er trat auf die Straße.
»Moment! Die Ampel ist rot.«
»Es kommt aber doch kein Auto. Gehen wir.«
Sie weigerte sich. »Ich renne nicht über die Straße, schon gar nicht über eine mit Schlaglöchern, wenn ich solche Schuhe an den Füßen hab.« Sie zeigte auf ihre zehn Zentimeter hohen Absätze.
»Ich halt Sie fest«, sagte er. »Sie fallen schon nicht hin.«
Er nahm ihren rechten Arm und führte sie fast im Trab über die Third Avenue. Plötzlich musste sie daran denken, dass er ihr nach der Obduktion von Terrell veranschaulicht hatte, wie sich der Winkel des Einschusskanals je nach Position des Schützen und der Bewegung des Opfers verändert. »Terrell stand aufrecht«, hatte er gesagt. »Der Schütze kauerte in einer Schussposition wie aus dem Polizeilehrbuch hinter ihm auf dem Boden. Daher der Aufwärtswinkel. Warten Sie, ich zeig Ihnen das mal.« Und er hatte ihr eine Hand auf den Rücken gelegt, die andere auf die Stelle zwischen Schulter und rechter Brust, und ihren Oberkörper dann sachte vorgebeugt. »Entscheidend ist, Ms. Manfreda, dass die Kugel nicht das Schulterblatt getroffen hat. Der menschliche Körper hat zweihundertsechs Knochen. Der einzige Knochen, der sich auf den anderen Knochen rauf- und runterbewegt, ist das Schulterblatt – die Scapula. Terrells Schulterblatt war angehoben, als der Schuss ihn traf, was bedeutet, dass er den Arm über den Kopf gehoben hatte, er wollte sich also ergeben, wie die Nachbarn sagen, und er wollte nicht nach einer Waffe in seiner Tasche greifen, wie die Polizei behauptet.«
Während sie jetzt zusammen über die Straße eilten, dachte Manny nicht an seine Worte, obwohl die ihrer Mandantin zu ihrem Recht verholfen hatten, sondern an das Prickeln, das ihr bei der Berührung durch seine Hände über den Rücken gelaufen war, an den albernen Impuls, sich umzudrehen und ihn zu küssen. Verrückt.
Sie erreichten den Bürgersteig auf der anderen Seite. Jake zeigte auf ein weißes Gebäude gegenüber. »Da drin ist Tennessee Williams gestorben. Laut Obduktionsbefund an einem Flaschenverschluss erstickt. Sein Bruder wollte das nicht glauben und hat behauptet, Williams wäre ermordet worden. Ich habe die Akten gesichtet. Der Bruder hatte zumindest teilweise recht. Der
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