Skalpell Nr. 5
würde?«
»Wollen Sie auf Schmerzensgeld klagen?«
»Ich will kein Geld « , sagte sie, als wäre das etwas Unanständiges. »Ich will nur rausfinden, was mit meinem Vater passiert ist.«
»Sie suchen also jemanden, der bereit wäre, Ihren Fall ohne Honorar zu übernehmen – dem es eventuell Entgelt genug wäre, die Wahrheit herauszufinden.«
Sie seufzte. »Ich weiß, das ist hoffnungslos.«
»Wissen Sie was«, sagte er, »ich glaube, ich wüsste da jemanden.«
4
Z uerst hatte Manny sofort wieder aufgelegt, als sie Jakes Stimme gehört hatte. Bei seinem zweiten Anruf reagierte sie etwas erwachsener und gestand sich schließlich ein, dass er zwar ein arroganter Schnösel war, aber im Fall Essie Carramia recht gehabt hatte. Sie hörte ihm zu, als er ihr von Patrice Perez erzählte. Dann rief sie Patrice selbst an, deren Geschichte wie üblich Mannys Robin-Hood-Instinkt weckte.
Und jetzt war sie fast zu ihrer eigenen Verwunderung in Poughkeepsie, New York, in der Psychoanalytic Academy for the Betterment of Life, wo die Akten mehrerer längst geschlossener psychiatrischer Kliniken, darunter die von Turner, verwahrt wurden. Sie hatte im Internet recherchiert und herausgefunden, dass der Staat New York die Academy dafür bezahlte, all die Unterlagen aufzubewahren, die nicht von der Turner Historical Society archiviert wurden. So kam es, dass sie an einem herrlichen Herbsttag das Verdeck ihres Porsche-Kabrios geöffnet hatte und hierher gefahren war.
Sie war vormittags angekommen, um genügend Zeit zu haben, die Dokumente zu sichten und noch im Sonnenschein wieder nach Hause zu fahren, doch die graue Fassade des Gebäudes wirkte wie eine dunkle Wolke inmitten des hellen Lichts. Sie trat durch die imposante vergitterte Eingangstür und ging auf eine mürrische junge Frau mit mattbraunem, schulterlangem Haar zu, die hinter einem Mahagonischreibtisch saß. Ein schwarzes Schild mit goldenen Lettern verkündete: EMPFANG .
Manny lächelte, wohl wissend, dass die Frau mit Sicherheit nicht zurücklächeln würde. »Hi. Ich bin Philomena Manfreda. Ich habe gestern angerufen. Es geht um alte Unterlagen aus dem Turner Mental Hospital, dem späteren Turner Psychiatric Institute.«
Die Empfangssekretärin warf einen Blick auf ihren Notizblock. »Ach ja, richtig. Aber Mr. Parklandius, unser Direktor, ist noch nicht im Haus, und ich kann Ihnen keine Einsicht in die Akten gewähren, ehe er nicht da ist.« Sie sah Manny aus zusammengekniffenen Augen an, als hätte sie ihre Brille vergessen oder als wäre das Licht zu schwach.
Die weiß nicht, mit wem sie sich anlegt, dachte Manny und lächelte noch breiter. »Entschuldigung. Ich hab Ihren Namen nicht mitbekommen.«
»Lorna Meissen. Ich bin die Assistentin von Mr. Parklandius. Sie haben gestern mit mir gesprochen. Ich hab gedacht, er wäre um diese Zeit da. Tut mir leid.«
»Lorna. Guten Morgen. Mir war nicht klar, dass er persönlich anwesend sein muss. Ich dachte, die Academy hätte in etwa die Funktion einer öffentlichen Bibliothek. Ich bin Anwältin, und das Gesetz schreibt vor, dass Sie mir, als einer Vertreterin der Öffentlichkeit, den Zugang zu den Akten nicht verwehren können, da die Bibliothek mit öffentlichen Mitteln finanziert wird. Mr. Parklandius muss mir gar keine persönliche Erlaubnis geben, deshalb spielt es auch keine Rolle, ob er da ist oder nicht.« Steht das tatsächlich so im Gesetz?
Lorna musterte Manny argwöhnisch. »Dann geht das wohl in Ordnung. Aber ich muss Sie warnen, die Unterlagen könnten schwer zu finden sein. Ich arbeite seit drei Jahren hier, und in der ganzen Zeit sind Sie erst die Zweite, die danach fragt.« Sie stand auf. »Kommen Sie. Ich bringe Sie nach oben in den Lesesaal.«
Sie verriegelte die Eingangstür per Knopfdruck von ihrem Schreibtisch aus und führte Manny zu einem beängstigend altmodischen Fahrstuhl mit offener Kabine. Das Gebäude gehörte der Familie Hawkins, erklärte sie, die mit Immobilien reich geworden war. Aber kein Mitglied der Familie hatte sich je hier blicken lassen, und Mr. Parklandius war bei dem Thema sehr verschlossen. Während der Fahrstuhl nach oben glitt, betrachtete Manny Marmorböden, gewölbte Decken und eine geschwungene Treppe mit schimmerndem Messinggeländer.
Im zweiten Stock stiegen sie aus. Außer ihnen beiden schien niemand im Haus zu sein. Manny hörte nur Stille. Rechter Hand war am Ende des Korridors eine Tür mit der Aufschrift ZUGANG NUR FÜR MITARBEITER, hinter der sich ein
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