Skalpell Nr. 5
kühler Wind verhieß Regen.
Links von ihr stand ein Backsteinbau mit großen Sonnenfenstern. Die meisten Scheiben waren eingeschlagen worden; drinnen lagen Steine, Ziegel, zerbrochene Bierflaschen, Glassplitter, tote Tauben. Der Speisesaal, wie Manny wusste. Hier hatten die Patienten im Sommer essen und die Sonne genießen können. Allmählich stellte sie sich die Klinik so vor, wie sie sie auf den Fotos aus ihrer Blütezeit gesehen hatte: eine elegante, gepflegte Institution für Frauen mit »nervösen Beschwerden« und Männer mit Alkoholproblemen, die sich die Preise leisten konnten. In späteren Jahren hatte die Einrichtung dieselben Probleme gehabt wie viele große psychiatrische Kliniken: schlecht ausgebildetes Personal, mit Drogen ruhig gestellte Patienten, gerade genug Geld, um sie mit Haferbrei und Pudding zu verpflegen. Es war schrecklich, einen Ort sehen zu müssen, der einmal so viele Menschen beherbergt hatte und der jetzt so gottverlassen wirkte. Es fühlte sich falsch an, wie ein Sommerlager im Winter. Oder wie ein Gefängnis. Eine Woge des Mitleids für Lieutenant James A. Lyons stieg in ihr auf.
Sie ging weiter, obwohl ihr inzwischen klar war, dass das Licht, auf das sie zustrebte, zu weit entfernt war, um noch auf dem Klinikgelände zu sein. Ein Stückchen weiter den Weg hinunter lag ein kleines flaches Haus, zirka zweieinhalb Meter lang und drei Meter hoch, mit einem einzigen schmalen Fenster unter dem Dach. Eine jähe Angst durchfuhr Manny, als sie begriff, was es war: der Isolierraum, in dem die problematischsten Patienten untergebracht worden waren. »Es handelt sich um einen Ort spiritueller Erholung«, hatte eine Broschüre der Klinik behauptet, »wo der gequälte Geist seinen Frieden wiederfinden kann.« Schwachsinn, hatte Manny gedacht, als sie das las, und Schwachsinn dachte sie nun erneut. Es war eine Einzelzelle, kein Ort der Erholung. Wenn ein Patient bestraft oder sein Willen gebrochen werden sollte, dann war das hier geschehen, abgeschieden von den Blicken der anderen Patienten und der Mehrheit des Personals.
Manny rüttelte an der Tür. Sie öffnete sich. Wie eine Höhlenforscherin richtete sie den Strahl der Taschenlampe ins Innere. Gummizellenwände, bemerkte sie mit einem Frösteln. Das Zimmer enthielt eine Pritsche mit einer zerfetzten Matratze darauf, ein Waschbecken und eine Toilette, sonst nichts. Obwohl sie wusste, dass sie hier mit Sicherheit keine Patientenakten finden würde, trat sie ein, und Bilder aus zahllosen Horrorfilmen schossen ihr durch den Kopf. Inzwischen war es draußen fast stockdunkel; nur ihre Taschenlampe sorgte für Licht.
An der linken Wand war ein Teil der Polsterung abgerissen worden, und darunter kam eine weiß verputzte Mauer zum Vorschein, die mit dunkler Tinte beschrieben war. Beschrieben? Tatsächlich. Ja! Manny trat näher. Das Loch war in Hüfthöhe. Die Schrift auf dem Putz hätte von einem Kind stammen können oder von einem knienden Erwachsenen. Sie kauerte sich hin und richtete den Lichtstrahl auf die Schrift. Die Botschaft war deutlich zu sehen:
Bitte, Gott, erlöse mich. Mach meiner Qual ein Ende. Sei meiner Seele gnädig.
I d la S
Als Manny sich wieder aufrichtete, rauschte ihr der eigene Herzschlag in den Ohren. Du arme gepeinigte Kreatur. Was hat man dir angetan?
Warme Luft strich über ihren Nacken, und einen Moment lang konnte sie sich nicht erklären, was die Ursache war. Doch dann begriff sie, und zwar mit solchem Entsetzen, dass sie wusste, was sie im Augenblick erlebte, würde sie bis an ihr Lebensende verfolgen. Atmen. Rhythmisches Atmen. Menschlich. Hinter mir steht jemand.
Ihr selbst stockte der Atem in der Brust. Sie fuhr herum, und die Taschenlampe malte wilde Muster auf die Gummiwände. »Wer ist da?« Aber es war nichts zu sehen außer den wenigen Möbeln und der weißen Wandpolsterung, die einmal dem Schutz der Geisteskranken gedient hatte. Die offene Tür verriet, welchen Weg der Eindringling genommen hatte.
Es war jemand hier. Ich weiß es. Zu verstört, um zu schreien, aber noch fähig zu rennen, stürmte Manny aus dem Isolierraum, hetzte den Berg hinauf, vorbei am Haus der Hoffnung und am Haus der Lebensfreude und hinein in die Sicherheit von Kenneths enthaarten Armen und in den herrlichen Duft der Geborgenheit.
12
S ie rief Jake an und erzählte ihm, was passiert war. Er war noch immer in seinem Büro.
»Wo sind Sie?«, fragte er.
»In meiner Wohnung. Kenneth hat mich hergefahren.«
»Ist er bei
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