Skalpell Nr. 5
abgeholt werden, ich war es nicht. Und sie sind auch nicht hier in unserer Leichenhalle angekommen, das garantiere ich Ihnen.«
Mutlosigkeit überkam sie. Wenn die Knochen verschwunden waren, konnte sie sie nicht nutzen, um weiter gegen den oder die Mörder von Harrigan und Mrs. Alessis vorzugehen, sie konnte Patrice nicht helfen und nicht mit Jake zusammenarbeiten. Sie fühlte sich leer, niedergeschlagen, am Ende.
»Da ist uns irgendwer immer einen Schritt voraus«, sagte sie.
»Und nicht nur das«, bestätigte er. »Die Knochen und das Gift sind Teile von ein und demselben Puzzle. Wir haben es mit jemandem zu tun, der über Leichen geht, um das Zusammensetzen dieses Puzzles zu verhindern.«
11
E s blieb noch ein Ort, den sie sich ansehen wollte. Langsam und bedächtig fuhr Manny mit Kenneth zum Turner Psychiatric Institute.
Als sie ankamen, war es fünf Uhr. Sie bestand darauf, dass Kenneth im Porsche wartete. Sie brauche ihn als Fluchtfahrer, erklärte sie, falls sie schnell abhauen mussten, schließlich hatte sie einen Einbruch vor. Sie griff ins Handschuhfach und nahm eine Taschenlampe heraus.
»Aber die Klinik hat doch dichtgemacht«, sagte Kenneth. »Genauso tot wie ihre Patienten. Da wirst du nichts mehr finden.«
»Vielleicht sind doch noch irgendwelche Akten da, Sachen, die einfach vergessen wurden. Wir haben keinerlei Beweise mehr, Kenneth. Wenn ich nichts finde, ist dieser Fall tot.«
Er lehnte sich im Sitz zurück. »Vielleicht ist das jetzt nicht besonders glücklich formuliert, Schwester. Aber du schaufelst dir dein eigenes Grab.«
Jetzt stand Manny vor einem riesigen, halb verfallenen grauen Bau, der sich auf einer Bergkuppe erhob wie eine mittelalterliche Burg. Die Fenster waren dunkel und die Türen verschlossen. Sie hatte sich die Baupläne angesehen und wusste, dass es das »Haus der Lebensfreude« war, ehemals das Hauptgebäude der Klinik, mit Büroräumen im Erdgeschoss und Krankenzimmern darüber. Manny zählte sechs Etagen. Sie bemerkte, dass die Fenster in den oberen Stockwerken extrem schmal waren, wahrscheinlich um lebensmüde Patienten daran zu hindern, sich hinauszustürzen. Am Haupteingang stand VERWALTUNG . Hier mussten sie die Krankenakten verwahrt haben, auch nachdem weitere Gebäude dazukamen. Wenn sie eine Akte verstecken wollten, statt sie nach Poughkeepsie zu schicken, dann musste sie noch hier sein. Sie griff nach der Klinke. Abgeschlossen. Eine Nebentür war ebenso abgeschlossen wie eine weitere auf der Rückseite. Die Fenster waren zu, und als sie durch die schmutzigen Scheiben spähte, bemerkte sie das Drahtgeflecht darin. Wenn sie durch ein Fenster einsteigen wollte, müsste sie die Scheibe einschlagen und den Draht zerschneiden.
Plötzlich wurde ihr die Sinnlosigkeit ihres Vorhabens bewusst. Einbrechen und sechs Stockwerke plus Keller durchsuchen? Bist du noch bei Trost?
Sie trat zurück. Die Zufahrtsstraße, die zu dem verlassen Parkplatz am Eingang führte, war steil gewesen. In der Ferne konnte sie das Feld sehen, wo die Knochen gefunden worden waren. Die Sonne stand tief am Himmel, und die Außengebäude warfen lange Schatten über das fast schwarz wirkende Gras. Die Luft kühlte rasch ab. Vielleicht ist ja hier irgendwo jemand. Am Fuß des Berges sah sie ein Licht, und obwohl sie nicht wusste, ob sich das Gebäude überhaupt noch auf dem Klinikgrundstück befand, ging sie darauf zu. Rechts von ihr ragte plötzlich ein weiteres finsteres Gebäude in der Dämmerung auf, als wäre es gerade erst aus dem Boden gesprossen. Unsicher ging Manny näher. Auf einem kaum noch lesbaren Schild über der Tür stand HAUS DER HOFFNUNG. Sie erkannte den Namen wieder. Hier hatten damals die Patienten gewohnt, die am wenigsten Pflege und Betreuung benötigt hatten. Auch diese Tür war abgeschlossen. An einem Eckfenster wischte sie ein Loch in die Schmutzschicht auf der Scheibe, leuchtete mit der Taschenlampe ins Innere und wurde mit dem Blick auf ein verrostetes Bettgestell belohnt, das über eine grün verschimmelte Matratze gekippt war, auf Wände voller Wasserflecken, lose Seiten einer alten Illustrierten und auf eine tote Ratte. Die Hoffnung hatte getrogen.
Um Gottes willen! Ein Eichhörnchen huschte zwischen ihren Beinen hindurch, und plötzlich hatte sie am ganzen Körper Gänsehaut. Sie schrie auf und schlug dann die Hand vor den Mund, weil sie nicht entdeckt werden wollte. Aber ein paar Anzeichen menschlichen Lebens täten jetzt gut. Wolken zogen auf, und ein
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