Skalpell Nr. 5
worden, weil ein Rechtsmediziner einen Fehler gemacht hatte. Im neunzehnten Jahrhundert sind zwei Engländer gehenkt worden, weil sie angeblich ihre Ehefrauen vergiftet hatten. Später fand man heraus, dass das Regenwasser Arsen aus dem Erdreich in die Särge gespült hatte.«
»Aber vor so was schützt doch eigentlich die Zementwanne, oder?«
Jake kletterte aus dem Loch. »Kommt drauf an, wie hoch das Grundwasser ist und wie gut die Versiegelung hält. Man kann nicht vorsichtig genug sein.«
Er inspizierte den Sarg. Abgesehen von dem anhaftenden Schmutz, glänzte das Holz, als wäre es gerade erst in die Erde gelassen worden. Der Gerichtsbeschluss verpflichtete ihn, die Obduktion vor Ort vorzunehmen. Er hatte seine Utensilien aus dem Auto mitgebracht.
Ned schraubte den Deckel auf, und Jake schob ihn behutsam zur Seite. Sein Herz krampfte sich zusammen. Petes zu Lebzeiten stets rotwangiges Gesicht war totenblass. Jake kannte den Grund: Bei der Einbalsamierung war das Blut entfernt worden. Doch ansonsten sah Pete fast lebendig aus – er trug den braunen Tweedanzug, den er so gemocht hatte, und das weiße Hemd stand am Hals offen –, und beim Anblick seines von allen Schmerzen befreiten Freundes wurde Jake von einer unerwarteten Rührung erfasst. Vielleicht hatte der Mörder Pete einen Gefallen getan, aber hätte das nicht Petes Entscheidung sein sollen? Hätte dieser liebenswerte Mensch nicht die Chance haben sollen, bis zum letzten Moment zu leben und die wenige Zeit auszukosten, die ihm noch blieb?
Reiß dich zusammen. Du weißt ja nicht mal, ob er überhaupt vergiftet wurde oder ob er sich umgebracht hat, so unwahrscheinlich das auch sein mag. Mach dich an die Arbeit.
Jake musste sich Petes Herz ansehen, um festzustellen, ob er, wie auf dem Totenschein angegeben, an Herzversagen gestorben war, die Leber, um nach Beweisen für eine Vergiftung zu suchen, und die Bauchspeicheldrüse, um zu sehen, ob der Krebs sich ausgebreitet hatte. Er zog Pete Jackett und Hemd aus, was leicht war, weil der Bestatter beides schon hinten aufgeschnitten hatte, um den Toten bequemer ankleiden zu können, dann die Hose, Unterhose und Socken. Pete trug keine Schuhe. Laut Gerichtsbeschluss durfte Jake die Organe sezieren und kleine Proben für die mikroskopische Untersuchung sichern, aber er durfte keine Organe aus dem Körper entnehmen.
Er machte den Y-Schnitt. Dafür dass Pete ein trinkfreudiger, zweiundsiebzig Jahre alter Mann gewesen war, machte sein Herz einen guten Eindruck. Es war nicht vergrößert, und es gab keinerlei Anzeichen für eine Koronarerkrankung. Sein Herz hatte ihn jedenfalls nicht umgebracht. Die Bauchspeicheldrüse war hart und grau, schon fast gänzlich vom Krebs zerfressen. Aber nichts wies darauf hin, dass das Geschwür auf andere Organe übergegriffen hatte. Und die Leber? Von außen sah er, dass die Kapsel runzelig war, und als er sie anschnitt, stellte er fest, dass die Lobuli nekrotisch waren. Ein deutlicher, aber nicht eindeutiger Befund. Er nahm sich vor, gleich einen Gefrierschnitt zu machen.
Jake gab Boris und Ned das übliche Trinkgeld. Dann sagte er seinem Mentor ein zweites, kürzeres Mal Lebewohl.
»Dr. Rosen, ich bin’s, Wally. Ich wollte Ihnen einen kleinen Zwischenbericht geben in meiner neuen Rolle als Dr. Winnick alias Sam Spade.«
Jake freute sich richtig, die Stimme seines Assistenten zu hören. »Schießen Sie los.«
»Ich glaube, ich hab da was gefunden.«
»Ausgezeichnet! Was denn?«
»Das möchte ich lieber noch für mich behalten, solange ich mir nicht ganz sicher bin. Aber es kann sein, dass ich noch ein oder zwei Tage bleiben muss.«
Es war typisch für Wally, erst dann den Mund aufzumachen, wenn er sich einer Sache wirklich sicher war. »Lassen Sie sich Zeit. Geht’s Ihnen gut?«
»In Turner? Sie machen Witze.«
Jake lachte und legte auf. Im selben Moment wurde seine Tür aufgerissen: Pederson, der vor Wut schäumte.
»Was zum Teufel denken Sie sich eigentlich?« Seine Wangen waren knallrot, und die Brille war ihm auf die Nasenspitze gerutscht. Alarmsignale.
»Charlie, lassen Sie mich erklären.«
»Da gibt’s nichts zu erklären. Stacy hat mich gerade aus dem Labor angerufen und gesagt, Sie hätten einen zweiten Fall unter einer Labornummer eingereicht, die zu keinem unserer Fälle unten gehört. Wie lange arbeiten Sie jetzt hier? Sie kennen die Regeln für private Tätigkeiten: niemals ohne meine Erlaubnis. Sie sind hier der zweite Mann. Sie könnten uns
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