Skalpell Nr. 5
eigentlich an?«, fragte Jake. »Sieht aus, als hätte er auf der Madison Avenue einen Einkaufsbummel gemacht.«
Manny bedachte ihn mit einem Blick. »Das nennt man Pullover. Es ist kühl draußen. Sieht er nicht toll aus? Und im Gegensatz zu manchen anderen in diesem Raum bedient er sich nicht aus Kleidersammlungen.«
»Mycroft ist nach Sherlock Holmes’ älterem Bruder benannt«, sagte Sam mit vollem Mund. »Weißt du noch, der dicke, träge, klügere von den beiden?«
Manny, die in die Küche gegangen war, um den Nachtisch vorzubereiten, schob empört den Kopf um die Ecke. »Er ist nicht dick. Er ist genial.«
»Er meinte die literarische Figur, nicht Ihren Hund«, sagte Jake. »Die Figur ist übrigens auch genial.«
»Mycroft Manfreda ist genialer.«
Mein schärfster Konkurrent ist nicht bloß ein Hund – er ist auch noch ein Genie!, dachte Jake.
Nach dem Essen veränderte sich die Stimmung. Sam ging nach Hause. Mycroft verschwand die Treppe hinauf, um seine Umgebung zu erkunden, und Jake und Manny, die sich in bequemen Polstersesseln im Wohnzimmer niedergelassen hatten, gaben sich der Enttäuschung hin, die ihre vorherige heitere Plauderei nur überdeckt hatte. Jake erzählte ihr von den Ergebnissen der Exhumierung, seinem letzten Telefonat mit Elizabeth, seinem Verdacht gegenüber Pederson und von Pedersons rätselhafter Bemerkung über Pete.
»Zumindest haben wir Richter Bradford überzeugen können, den Bau des Einkaufszentrums zu stoppen«, sagte Manny. »Und vielleicht finden wir ja doch noch Unterlagen in der Klinik.«
»Falls die dort Akten zurückbehalten hatten, dann sind sie jetzt bestimmt nicht mehr da. Der Typ, dessen Atem Sie im Nacken gespürt haben, wird sie inzwischen weggeschafft oder vernichtet haben.«
»Da haben Sie recht.«
»Und wenn wir die Knochen nicht wieder auftreiben, wie lange wird der Baustopp dann bestehen bleiben?«
»Eine Woche?«
»Wenn überhaupt.«
»Mist.«
Sie betrachteten einander schweigend, brachten vor Sehnsucht keinen Ton mehr heraus.
Da kommt ja der kleine Märchenprinz von Hund schon wieder an. Jake warf ihm einen bösen Blick zu.
»Mycroft!« Manny sprach Mycroft in einer kindlichen Singsangstimme an, als würde sie mit einem Baby reden. »Was hast du denn da Feines? Was hat Mannys kleiner Mann in seinem klitzekleinen Schnäuzchen? Komm her. Gib’s Mommy.«
Sie streckte die Hand aus. Mycroft knurrte sie an. »Nein«, sagte sie. »Du wirst Mommy nicht anknurren. Gib das her.« Sie zog den Gegenstand aus Mycrofts Schnauze und reichte ihn Jake. »Hat er das aus dem Müll gefischt?«
Es war ein gebogenes Knochenstück. Er inspizierte es. »Das ist ein menschlicher Knochen. Eine Kinnlade.«
»Was?! Wer ist denn so pervers und wirft Menschenknochen in den Müll?«
»Den hat er nicht aus dem Müll. Das ist eins von meinen Lehrexemplaren.«
»Wieso lassen Sie das Zeug hier einfach so rumliegen?«
»Tu ich nicht. Das ist ordentlich gelagert.«
»Und wie nennen Sie dann das da?« Sie zeigte auf einen sehr großen Knochen, der auf einem Aktenschrank in der Ecke lag.
»Das ist ein Oberschenkelknochen von einem Allosaurus. Hab ich auf einer Auktion von Dinosaurierknochen gekauft.«
»Warum?«
Er zuckte die Achseln. »Hat mir irgendwie gefallen. Sieht aus wie ein menschlicher Oberschenkelknochen, nur viel größer. Nicht nur unsere Knochen sehen ähnlich aus, wir haben auch über neunzig Prozent der DNS gemeinsam.«
»Ich geb’s auf.« Sie betrachtete den Knochen. »Wenigstens ist er nicht voller Staub. Sie müssen die beste Haushälterin in ganz Manhattan haben.«
»Die darf die Exemplare nicht anrühren. Ich hab da ein ganz ausgetüfteltes Ordnungssystem, damit ich schnell finde, was ich brauche. Alles hat einen pädagogischen Wert. Zum Beispiel die Kinnlade da. Damit führe ich Studenten vor, wie menschliche Überreste anhand des Gebisses identifiziert werden können. Die hier stammt von einer Frau. Das sieht man daran, dass sie an den Seiten, wo die Muskeln ansetzen, glatter ist. Außerdem hatte sie offensichtlich einige zahnärztliche Behandlungen. In den ersten und zweiten Backenzähnen sind Füllungen. Und das –«
»Was ist?«, fragte Manny.
Er starrte den Knochen an, und ein wildes Leuchten trat in seine Augen. »Menschenskind!«, rief er. »Menschenskind, Sie hatten recht! Der Hund ist Mycroft und Sherlock in Personalunion.«
Jake sprang auf und rannte die Treppe hoch, dicht gefolgt von Mycroft.
»Wo wollen Sie hin?«,
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