Skandal im Königshaus Meisterspionin Mary Quinn 3
waren sich wohl wieder einig. Vielleicht hatten sie in letzter Zeit nur stark unter Druck gestanden. Womöglich hatte sie den Unstimmigkeiten zu viel Bedeutung beigemessen. Zwischen Kollegen gab es doch immer mal Spannungen, vor allem, wenn die Arbeit so intensiv und wichtig war wie die der Agentur.
Ja, das war bestimmt der einzige Grund.
Ihr altes Zimmer hatte den abgestandenen, staubigen Geruch eines Raumes, der lange nicht benutzt worden war. Mary sah sich in der Kammer um, die kaum groß genug war, um mehr aufzunehmen als ein Einzelbett, einen kleinen Schrank und einen schmalen Schreibtisch mit Stuhl. Jahrelang war es ihr Zimmer gewesen; sie kannte jeden Winkel, die Dachschrägen und das hohe, schmale Fenster besser als das Zuhause ihrer Kindheit. Doch jedes Mal, wenn sie von einem Auftrag zurückkehrte, kam ihr das Zimmer fremd vor. Sie brauchte immer ein bisschen, um sich wieder einzugewöhnen; um wieder sie selbst zu werden. Sie mochte dieses Gefühl der Entfremdung nicht, daher betrat sie das Zimmer während eines Einsatzes selten. Heute ging sie fast auf Zehenspitzen hindurch. Der Schreibtischstuhl knarrte etwas, als sie sich setzte; das war neu. Es war kalt im Zimmer und die Fensterscheibe war mit einer dünnenEisschicht überzogen. Es fühlte sich überhaupt nicht heimisch an.
Egal. Sie öffnete ihren Schreibtisch – der wie ein Pult in Klassenzimmern war, mit einer aufschlagbaren Klappe – und betrachtete die wenigen, säuberlich aufgeräumten Dinge darin. Zwei Federhalter. Ein Tintenfass. Ein paar leere Seiten Notizpapier mit leicht eingerollten Rändern. Keine Erinnerungsstücke, keine Briefsammlung, kein kindisches Tagebuch – überhaupt nichts Persönliches. Wie ein unbeschriebenes Blatt, das zu ihrer Arbeit passte ebenso wie zu ihrem Gefühl, entwurzelt zu sein. Eine bekehrte Einbrecherin, errettet von Anne und Felicity. Eine Waise – vielleicht.
James’ Worte, die er bei ihrer letzten Unterhaltung zu ihr gesagt hatte, hallten in ihr nach:
Du wirst noch gesucht. Wenn sie dich jetzt ergreifen würden, würdest du gehängt …
Aber viel schlimmer als seine Worte war sein Blick gewesen. Verwirrung. Missbilligung. Vielleicht sogar etwas wie Abscheu. Wenn es darum ging, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen, war James unerbittlich. Und sie konnte sich seine hochgesteckten moralischen Ansprüche nicht leisten, selbst wenn sie sich das wünschte. Es war verdammt gut, dass es zwischen ihnen aus war. Sie würde ihm diese neue und schreckliche Wendung der Dinge niemals erklären können, wenn sie noch ein Liebespaar wären.
Eine ganze Weile starrte sie die Federhalter, die Tinte, das Schreibpapier an. Dann schloss sie denSchreibtisch mit einem Knall. An James zu schreiben und ganz förmlich um ein Gespräch zu bitten, würde die Angelegenheit nur quälend hinauszögern. Und ihm die Gelegenheit bieten, abzulehnen. Viel besser, ihm direkt gegenüberzutreten und seine Reaktion zu sehen. Sie würde an seinen Augen ablesen können, ob sie ihm ihr Geheimnis anvertrauen konnte.
Mary ging zur Tür – es waren nur fünf Schritte –, dann blieb sie stehen. Kehrte zum Schrank zurück und holte ein Handtäschchen heraus. Kramte mit kribbelnden Fingerspitzen darin herum und zog ein Päckchen von der Größe einer Walnuss heraus. Sie faltete das Stoffstückchen auf, und es kam ein kleiner Anhänger zum Vorschein, grün wie eine Stachelbeere. Birnenförmig. Das war alles, was sie noch von ihrem Vater hatte. Sein übriges Vermächtnis – ein Brief, ein Stapel Dokumente – war dahin, bei einem Hausbrand vernichtet, nachdem sie erst Tage zuvor von seiner Existenz erfahren hatte. Aber sie hatte noch den Jadeanhänger.
Mary legte die Kette an und versteckte sie im Ausschnitt, sodass nichts davon zu sehen war. Es war gefährlich, persönliche Andenken bei der Arbeit zu tragen. Sie hatte es noch nie gemacht. Aber heute schien es irgendwie unerlässlich. Wenn ihre Vergangenheit auf ihre Gegenwart prallen würde, war sie zumindest auf diese kleine, doch lebensnotwendige Weise gewappnet.
So gerüstet, schloss sie den Schrank. Widerstandder Versuchung, in einen Spiegel zu sehen, trat auf die Acacia Road hinaus und rief eine Droschke herbei.
»Wohin, Fräulein?«
»Gordon Square.«
Sechs
46 Gordon Square, Bloomsbury
D as Haus der Eastons gehörte zu einer Reihe erst kürzlich erbauter Stadthäuser. Es war von eleganten Proportionen, jedoch nicht modisch. Kurzum, es war
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