Skandal im Königshaus Meisterspionin Mary Quinn 3
sehen, ehe er gesehen wurde? Aber dazu war es jetzt zu spät.
In der Düsternis sah er ein kleines Paar Stiefel auf die letzten Sprossen steigen, ein paar Zentimeter Fußgelenk unter einem dunklen Rock, und sofort wurde er von Besorgnis und Unmut ergriffen. Er konnte doch nicht ein Paar Knöpfstiefel wiedererkennen. Das war lächerlich. Und dennoch, als die Trägerin der Stiefel den Boden erreichte und sich umdrehte, konnte es niemand anders sein als sie.
»Ich habe dir doch gesagt, dass du mit den übrigen Angestellten verschwinden sollst«, sagte er unwillig.
Sie klopfte sich die Hände ab. »Stimmt. Ach, guten Tag übrigens.«
»Es ist kein guter Tag, um genau zu sein. Geh zurück. Geh wieder.«
Das tat sie nicht, im Gegenteil. Staunend erblickte sie die aufgetürmten Kisten. »Das sind ja Unmengen von Nitrocellulose.«
»Genug, um uns hundertmal in die Luft zu sprengen«, pflichtete er ihr bei. »Weshalb du sofort wieder kehrtmachst.«
»Nur, wenn du mitkommst.« Sie streckte die Hand aus.
Er starrte sie an. Geriet in Versuchung. »Jemand muss die Kisten bewachen, bis die Armee sie entsorgt.«
»Das dachte ich mir auch. Ich bin gekommen, um zu helfen.«
Er sah zu der Leiter und dem Schacht hinüber. Hatte er genug Platz, um sie sich einfach über die Schulter zu werfen und zwangsweise nach oben zu verfrachten?
»Keine Chance«, sagte sie mit zuckersüßer Stimme. »Ich würde mich wehren. Und dann würden die Kisten ganz unbewacht sein.«
Nicht zum ersten Mal hatte er gute Lust, sie zu schütteln. Doch stattdessen holte er tief Luft und unterdrückte seinen Ärger. »Mary. Gibt es gar nichts, womit ich dich umstimmen kann?«
»Nein. Du brauchst Hilfe. Jetzt sag mir, was ich tun soll.« Sie rollte bereits die Ärmel hoch und raffte die Röcke bis zum Knie, um sich besser bewegen zu können.
Er seufzte. Dann sagte er zähneknirschend: »Wir bilden eine Kette. Ich fülle die Eimer und reiche sie dir weiter; du tränkst die Schießbaumwolle und stellst sie auf halbem Weg zwischen uns wieder ab.«
»Sehr gut.«
»Alles andere als gut, würde ich sagen.«
Sie verdrehte die Augen. »Dann eben: sehr vernünftig.«
Sie war unwiderstehlich. Er beugte sich vor und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. »Ich liebe vernünftige Mädchen.« Und dann machte er sich mit den Eimern davon, ehe ihr eine passende Entgegnung einfiel.
Dreißig
N achdem sie ihren Rhythmus gefunden hatten, konnte Mary sich nur noch schwer vorstellen, dass sie in akuter Gefahr schwebten. Es war eine elende Schlepperei, das stimmte – schmutzig, rutschig, nass –, doch die Schießbaumwolle sah so harmlos aus. Dennoch schufteten sie weiter. Nach ungefähr einer halben Stunde hatten sie so viel Wasser geholt, dass sie zwei Drittel der Kisten durchtränkt hatten. Bald würde die Gefahr gebannt sein.
Als sie das nächste Mal mit James die Eimer austauschte, der eine voll, der andere leer, sagte sie: »Kommt dir das nicht auch seltsam vor, Nitrocellulose zu nehmen?«
»Wie meinst du das?« Er klang etwas geistesabwesend und spähte den Tunnel entlang ins Leere.
»Das ganze Vorhaben kommt mir merkwürdig ungeplant vor … eher, als wolle man Unruhe stiften, nicht wie eine konkrete Bedrohung der Krone.«
»Meiner Ansicht nach lässt das Anbringen vonSprengstoff unter dem Buckingham-Palast in jedem Fall jegliche Vernunft vermissen.«
»Genau«, bestätigte sie, »aber ist es nicht besonders töricht, Nitrocellulose zu verwenden? Wenn jemand die Königin ermorden wollte, gäbe es doch direktere Möglichkeiten. Fast jeden Tag macht sie eine Ausfahrt in den Parks; es wäre nicht so schwierig, ihrer Kutsche aufzulauern oder ihr eine Pistole an den Kopf zu halten.«
»Der Palast ist aber ein bedeutendes Symbol. Vielleicht will jemand dagegen protestieren, gegen das, was er repräsentiert, nicht gegen die Königin persönlich.«
»Trotzdem, das Risiko, die ganze Schießbaumwolle hereinzuschaffen … keine vernünftige Person würde ein so hohes Risiko eingehen. Es sei denn, er oder sie ist zum Äußersten entschlossen oder völlig gleichgültig.«
Jetzt wandte er sich nach ihr um und blickte sie lange an. Er sah todernst aus und – welch seltsamer Augenblick, um das zu bemerken – richtig gut, zumindest, soweit es in dieser Dunkelheit zu erkennen war. »Du redest von einem Geisteskranken.«
»Oder jemandem, der sich um die eigene Sicherheit nicht schert.«
»Das unterscheidet sich in der Praxis nicht so sehr
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