Skandalöse Küsse - Scandal Becomes Her
konnte sie nicht sagen. Raoul war von angenehmer Erscheinung, aber er besaß kein Land. Sicher, er erhielt eine großzügige Apanage von seiner Mutter und würde eines Tages ein stattliches Vermögen von ihr erben, aber dennoch hätte Nell einen Gentleman vorgezogen, der schon sein eigener Herr war und … vielleicht auch einen Titel besäße? Sie musste im Geiste über sich selbst lachen, verstand zum ersten Mal, warum ihr Vater sie mit einem Mann von Stand und Vermögen hatte verheiratet sehen wollen.
Nell tat es nicht leid, als die Westons aufbrachen; mit ihrem ersten aufrichtigen Lächeln an diesem Nachmittag verabschiedete sie sich, bevor Raoul und seine Mutter in der kleinen geschlossenen Kutsche in flottem Tempo abfuhren.
Kurz darauf brachen Elizabeth und Lady Diana auf, um der Frau des Squire einen Besuch abzustatten.
Nachdem sie den beiden nachgewinkt hatte, wurde Nell bewusst, dass sie bis auf die Diener allein im Haus war. Etwas von dem Entsetzen des Albtraumes war verblasst, aber sie fühlte sich alles andere als unbeschwert und sorgenfrei. Heute war es nicht anders als sonst, und plötzlich wünschte sie sich, dass Julian schon zurück wäre, oder dass sie mit Lady Diana und Elizabeth gegangen wäre. Was absolut lächerlich ist, schalt sie sich und nahm die Schultern zurück. Sie war in Sicherheit. Und sie hatte auch nicht vor, irgendetwas Dummes zu tun. Sie ermahnte sich noch einmal, nicht albern zu sein, und lenkte ihre Schritte zu den Gärten, wobei sie sich sagte, dass schließlich eine halbe Armee von Dienstboten in Rufweite sei.
Es war ein wunderbarer Nachmittag für einen kleinen Spaziergang, und so entschied sich Nell für einen Weg seitlich am Haus vorbei. Nach ein paar Minuten durch die sorgsam gepflegten Anlagen fand sie eine steinerne Bank unweit eines kleinen Teiches und setzte sich darauf; sie genoss das Summen der Bienen und den Duft von Flieder und Rosen, der die Luft erfüllte. Das leise Gebrumm der Insekten und die Wärme des Tages hatten eine einschläfernde Wirkung, und ehe sie wusste, wie ihr geschah, war sie eingenickt.
Sie wachte jäh auf und hätte beinahe vor Schreck geschrien, als sie merkte, dass Mrs. Weston neben ihr auf der Bank saß.
Die Ältere tätschelte ihr die Hand und sagte: »Oh, Entschuldigung. Ich wollte Sie nicht erschrecken, ma petite .«
Die letzten Reste des Schlafes bekämpfend, setzte sich Nell gerade hin und erklärte: »Ich muss einen Augenblick weggedämmert sein.« Sie runzelte die Stirn. »Haben Sie etwas vergessen?«
Mrs. Weston lächelte und sagte: » Mais oui . Es ist so gut, dass ich Sie im Garten schlafen gesehen habe und mich nicht von dem ach so aufrechten Dibble ankündigen lassen musste.« Ihr Lächeln verblasste, und sie richtete ihre glänzenden schwarzen Schlangenaugen auf Nell und sagte: »Und nun, mon amie , ehe jemand merkt, dass ich noch einmal zurückgekommen bin, denke ich, es ist an der Zeit, dass wir gehen, nicht wahr? Die Angelegenheit ist lange genug aufgeschoben worden.« Ihre Stimme wurde hart. »Zehn Jahre zu lange.«
Entsetzen erfasste Nell, als sie begriff. Tonlos sagte sie: »Sie waren das an jenem Tag! Sie waren es, die mir den Schlag auf den Hinterkopf gegeben hat!« Sie riss die Augen weit auf. »Und das heißt …« Sie schluckte krampfhaft, unfähig, die Worte laut auszusprechen.
Mrs. Weston stand auf. »Wir haben später noch Zeit, in Ruhe miteinander zu sprechen, aber für den Moment sollten Sie besser so unauffällig wie möglich mit mir kommen, oder ich erschieße Sie.«
Nell stand langsam auf, die Augen fest auf die kleine Pistole in Mrs. Westons Hand gerichtet. Nur eine Sache war ihr klar: Sie würde mit Mrs. Weston nirgendwohin gehen. Nicht, dachte sie mit einem Gefühl von Übelkeit, solange sie am Leben war. Und wenn sie Mrs. Weston dazu bewegen könnte, weiterzureden …
»Warum?«, fragte sie. »Warum hat er John umgebracht?«
Mrs. Weston wirkte ungeduldig. »Weil mein ältester Stiefsohn ein Narr war und entschlossen, meinen Sohn dazu zu zwingen, eine schmutzige Bauerntochter zu heiraten. Die kleine Schlampe war dumm genug, schwanger zu werden, weil sie meinte, sich damit meinen Raoul angeln zu können.« Ihre Miene verfinsterte sich. »Mein Raoul. Mein Sohn! Verheiratet mit der Tochter eines einfachen Bauern!«
»Und deswegen hat er seinen Bruder ermordet?«, wollte Nell ungläubig wissen.
»Das ist doch jetzt vollkommen egal«, entgegnete Mrs. Weston scharf. »Genug davon! Gehen Sie zu der
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