Skandalöse Küsse - Scandal Becomes Her
neunundzwanzigsten Geburtstag gefeiert hatte und jetzt aus diesem Abstand auf die Zeit vor zehn Jahren zurückblickte, schien es ihr unvorstellbar, dass sie jemals das junge sorglose Mädchen gewesen war, das sich mit dem großen Los der Saison verlobt hatte, dem ältesten Sohn des Herzogs von Bethune. Als Aubrey Fowlkes, Marquis Giffard, der Erbe des Herzogtums seines Vaters, im Frühjahr 1794 seine Absicht erklärt hatte, die Tochter eines bloßen Baronets zu ehelichen, der zugegebenermaßen sehr reich war, hatte es
viel Gerede gegeben. Und es hatte noch mehr gegeben, dachte sie mit einem verächtlichen Schnauben, als die Verbindung noch im selben Jahr aufgelöst worden war. In demselben Jahr, in dem sie den furchtbaren Reitunfall gehabt hatte und von ihrem Pferd gestürzt war, was sie beinahe das Leben gekostet hatte und in dessen Folge ihr Bein nie ganz verheilt war - bis zum heutigen Tag hatte sie ein leichtes Hinken zurückbehalten, das sich meistens zeigte, wenn sie müde war.
Sie stand auf und ging zu einem hohen Fenster, das auf den Garten an der Seite des Hauses hinausging. Sie schob die rosafarbenen Vorhänge zur Seite und stieß die hohen Doppeltüren auf, die auf einen kleinen Balkon führten. Sie trat darauf und blickte auf die steinerne Terrasse unten und die gepflegten Beete mit den sorgfältig gestutzten Büschen, die sie säumten. Das grau-lila Licht des Morgengrauens verblasste, und die ersten rosa und goldenen Strahlen der Sonne berührten die Spitzen der Rosensträucher. Es würde ein wunderschöner Oktobertag werden - ein ebenso klarer, kühler, aber sonniger Oktobertag wie der, an dem sie zu dem verhängnisvollen Ausritt aufgebrochen war, der ihr Leben so nachhaltig verändert hatte.
An jenem Morgen vor zehn Jahren war sie auf Meadowlea, dem Landsitz ihrer Familie in der Nähe der Küste von Dorset, früh aufgestanden und war zu den Ställen geeilt. Sie hatte die Warnung ihres besorgten Vaters, nicht allein an der Küste entlang zu reiten, in den Wind geschlagen und hatte, ohne lange nachzudenken, auf die Dienste eines Reitburschen verzichtet. Nachdem ihr Lieblingspferd Firefly gesattelt war - eine kecke kastanienbraune Stute -, war sie aufgesessen und davongaloppiert, weg von dem Haus und den gepflegten Ländereien. Sowohl sie als auch die Stute hatten den strahlenden Sonnenschein genießen wollen; und während sie übers Land
rasten, hatte die kühle Morgenluft Rosen auf Nells Wangen und ein fröhliches Strahlen in ihre Augen gezaubert.
Es war nie herausgefunden worden, was den Unfall verursacht hatte, und nachdem sie wieder zu Bewusstsein gekommen war, konnte Nell sich nicht daran erinnern. Alle Zeichen wiesen darauf hin, dass ihr Pferd gestolpert war oder sich aufgebäumt hatte, worauf sie beide über den zackigen Rand einer Klippe gestürzt waren. Das Einzige, was Nell an jenem Tag vor dem sicheren Tod bewahrt hatte, war ein schmaler Felsvorsprung gewesen, auf dem sie gelandet war, etwa dreißig Fuß weiter unten auf der sonst steil zum Meer hin abfallenden Küste. Firefly war auf den Felsen unten im Wasser gestorben.
Nell war stundenlang nicht vermisst worden, und zu dem Zeitpunkt, als sie schließlich entdeckt wurde, hatte die Dämmerung schon eingesetzt. In dem flackernden Licht einer Laterne hatte einer der nach ihr suchenden Männer den aufgeworfenen Boden am Rand der Klippe bemerkt und darübergeschaut. Sein Ruf hatte die anderen alarmiert. Es hatte weitere Stunden gedauert, sie von dem schmalen Felsvorsprung über dem Meer nach oben zu holen - es war ein Glück, dass sie dabei bewusstlos geblieben war. Noch nicht einmal als sie schließlich nach Hause gebracht und die gebrochenen Knochen in ihrem Bein und ihrem Arm geschient worden waren, rührte sie sich. In jenen ersten Tagen, als sie wie tot dalag, hatte man befürchten müssen, dass sie sich nie erholen würde.
Natürlich hatte man Lord Giffard sogleich verständigt. Und, dachte sie ungnädig, man musste ihm zugute halten, dass er unverzüglich an ihr Krankenbett geeilt und auf Meadowlea geblieben war, die ganzen endlosen zwei Wochen lang, während alle darauf warteten, dass sie aufwachte, und sich zugleich fragten, ob sie das wohl je würde.
Mehrere Tage lang, nachdem sie endlich zu sich gekommen war, war sie verwirrt gewesen, und es kamen Gerüchte auf, dass ihr Verstand Schaden genommen hätte. Angesichts so trostloser Aussichten war niemand überrascht, als Nells Vater Sir Edward Lord Giffard und den Herzog davon
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