Skandalöse Küsse - Scandal Becomes Her
unterrichtete, dass er es verstehen würde, wenn sie die Verlobung lösen wollten. Giffard hatte sofort zugegriffen - schließlich würde seine Gattin eines Tages Herzogin werden, und das verletzte, wirr redende Geschöpf, das im oberen Stockwerk in Meadowlea im Bett lag, war nicht die Frau, die er sich vorgestellt hatte oder die, um die er angehalten hatte. In jenem November wurde die Verlobung diskret aufgelöst, fünf kurze Monate, nachdem sie geschlossen worden war.
Nells Genesung hatte lange Zeit gedauert, aber im folgenden Frühling war ihre Verwirrung überwunden, ihr Arm war ohne Komplikationen verheilt, und sie war in der Lage, gestützt auf einen Gehstock mit Elfenbeingriff in Meadowlea herumzuhumpeln. Nach einiger Zeit waren ihr als einzige Nachwirkungen des beinahe tödlichen Unfalls ihr Hinken - und die Albträume geblieben.
An vieles von dem, was während ihrer Genesung geschehen war, konnte sie sich nicht erinnern. Die einzige klare Erinnerung aus jenen Tagen war der Albtraum, der sie in ihrem besinnungslosen Zustand verfolgt hatte. Der erste, den sie immer wieder durchlebte, unterschied sich von den anderen, die nun ihren Schlaf störten. Das Opfer war ein Mann gewesen, ein Gentleman, und der Tatort ein Wäldchen. Aber das Ende war das gleiche gewesen: ein hässlicher Tod aus den Händen einer Schattengestalt. Erst später waren Frauen die Opfer geworden und der Kerker der bevorzugte Schauplatz von Brutalität und Mord.
Während ihre Gesundung fortschritt, hatte Nell gehofft,
dass der Albtraum verblassen würde, dass er nur ein letztes Überbleibsel des Sturzes war. Es hatte sie überglücklich gemacht, als im folgenden Sommer die Träume endlich aufhörten. Im Herbst und am Anfang des Winters genoss sie monatelang Nacht für Nacht ungestörten Schlaf. Sie war sich sicher, dass sie die Tragödie und ihre Nachwirkungen schließlich doch hinter sich gelassen hatte. Bis die Albträume in ihrer gegenwärtigen Form zurückkehrten, um sie in ihrem Schlaf zu verfolgen.
Seufzend wandte sie sich von dem Blick in den Garten ab und ging zum Kamin, um in der schwelenden Glut zu stochern. Wie ihr gelegentliches Hinken schienen die Albträume zu einem Teil von ihr geworden zu sein. Nicht, dachte sie dankbar, dass sie sie so oft plagten wie das Hinken. Manchmal verging ein ganzes Jahr, ehe sie wieder einen Albtraum hatte, und nach jedem betete sie, dass es der letzte gewesen sein möge. Aber natürlich war es das nie. Sie kamen immer wieder, und das Einzige, was sich darin änderte, waren die Gesichter der Frauen und die Brutalität des Mordes. Heute Nacht, fiel ihr mit einem Schauder auf, war es das dritte Mal in diesem Jahr, dass sie den Schrecken durchlebt hatte.
Das dritte Mal in diesem Jahr. Ihr stockte der Atem. Die Erkenntnis, der sie die ganze Zeit ausgewichen war, seit sie aufgewacht war, traf sie wie ein Schlag: Die Albträume nahmen zu, die Gesichter der Frauen änderten sich in entsetzlicher Regelmäßigkeit. Und schlimmer noch, in dem Traum diese Nacht hatte sie das Gefühl gehabt, als sei ihr das Gesicht der jungen Frau vertraut, als kennte sie sie.
Nell kehrte dem Feuer den Rücken, nahm ihren Morgenrock von einem Stuhl in der Nähe und schlüpfte hinein. Sie wurde wirklich langsam verrückt, entschied sie, wenn sie
dachte, dass sie das Opfer heute Nacht wiedererkannt hatte. Das war vollkommener Unsinn. Hässlich und widerwärtig, sicher, aber es war nicht wirklich geschehen. Und wenn sie närrisch genug war, sich einzubilden, die Frau zu kennen, dann war das einfach ein Zufall. Es war schließlich, so sagte sie sich fest, nur ein verfluchter Albtraum!
Sie marschierte in ihr Ankleidezimmer, das an das Schlafzimmer grenzte, und goss sich Wasser aus einem Porzellankrug mit Veilchenmuster in die passende Schüssel. Sie wusch sich das Gesicht und putzte sich die Zähne, zwang sich, nicht länger so beunruhigenden Gedanken nachzuhängen. Heute würde es viel zu tun geben; der Haushalt bereitete sich darauf vor, in der kommenden Woche für den Winter nach Meadowlea zurückzukehren, und es gab viel zu tun.
Als Nell im Morgenzimmer eintraf, war sie nicht überrascht, trotz der frühen Stunde ihren Vater dort schon vorzufinden.
Sie küsste die kahle Stelle auf seinem Kopf, als sie an seinem Platz vorbeikam, ging weiter zum Mahagoni-Sideboard an der Wand. Sie wählte eine Scheibe Toast und ein paar Räucherheringe aus den Schüsseln mit den verschiedenen Speisen, die dort standen; nachdem sie sich
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