Skelett
Das sind seine Worte, nicht meine. Larry legt Wert darauf, dass jedes dieser Feste unter einem Motto steht, und dieses Mal ist es eben ein ›Weißes Fest‹. Das letzte Mal gab es eine New-Orleans-Party, was übrigens ein Riesenspaß war. Ich musste mich anziehen wie die Mädels im Vieux Carré Rouge, wenn Sie verstehen, was ich damit meine.«
»Wo sind eigentlich die anderen Gäste?«, fragte Tweed wie beiläufig.
In diesem Augenblick hörten sie, wie sich aus der Richtung des Moors schlurfende Schritte näherten. Es war Michael, der einen weißen Abendanzug trug, dazu aber normale Straßenschuhe. »Wo bist du denn gewesen?«, rief Lucinda ihm zu und fügte, an Tweed gewandt, leise fluchend hinzu: »Verdammt, ich mache immer noch den Fehler, ihn anzusprechen, und vergesse dabei ganz, dass er ja immer noch stumm wie ein Fisch ist. An diese schreckliche Amnesie werde ich mich wohl nie gewöhnen.«
Tweed beobachtete Michael, wie dieser steifbeinig und mit kerzengeradem Rücken dahinmarschierte. Tweed und Paula hatten ihn nie anders erlebt, seit er in London die psychiatrische Klinik verlassen hatte und in Tweeds Wagen gestiegen war. Später war er dann in dieser Haltung auch durch das Moor gewandert. Michael ließ den Blick über die Terrasse schweifen, und Paula erkannte wieder den gleichen leeren Ausdruck in seinen Augen. Er schien niemanden zu erkennen und setzte seinen Weg ins Haus fort.
Tweed zündete sich eine Zigarette an, was äußerst selten vorkam, und bot Lucinda auch eine an.
»Ich frage mich, woher Michael wusste, was er heute Abend anziehen soll«, sagte er.
»Das kann ich Ihnen erklären«, sagte Lucinda. »Ich habe ihm seine Garderobe für heute Abend aufs Bett gelegt, und er hat sie brav angezogen.«
»Bevor wir fahren, würde ich gern doch noch einen kurzen Blick auf die Festgäste werfen«, sagte Tweed.
»Ja, einen Gast sollten Sie unbedingt noch sehen. Diesen grandiosen Anblick dürfen Sie sich auf keinen Fall entgehen lassen«, entgegnete Lucinda mit höhnischer Stimme. Sie fasste Tweed abermals am Arm. »Kommen Sie mit herein …«
Drinnen war der große Esstisch bereits für vier Personen gedeckt. In einer Ecke des Wohnzimmers hatte sich Aubrey Greystoke auf einem Sessel niedergelassen. Auf dem kleinen Couchtisch neben ihm stand griffbereit eine Flasche Scotch.
Greystoke trug eine weiße Marineuniform, wie man sie in den Tropen verwendete. Die drei goldenen Streifen an den Ärmeln wiesen ihn als hohen Offizier aus, was Paula fast in einen Lachkrampf trieb.
»Du sollst doch heute nur weißen Champagner trinken«, meinte Lucinda tadelnd zu ihm. »Larry wird das mit dem Whisky gar nicht gern sehen.«
»Gerade habe ich eine ganz Flasche Schampus geleert, meine Liebe. Schau, da drüben steht sie noch. Ich war also ein braver Junge, der sich jetzt wohl zum Ausgleich etwas genehmigen darf.« Plötzlich bemerkte er Tweed und Paula und sprang wie elektrisiert aus dem Sessel, wobei er mit dem Ellbogen das leere Champagnerglas vom Tisch stieß. Bevor es zu Boden fallen konnte, fing er es jedoch mit der Hand auf und stellte es wieder auf den Tisch zurück.
Hervorragende Reflexe, dachte Paula. So viel kann der noch nicht intus haben.
»Ja, wen haben wir denn da!«, sagte Greystoke zu ihr.
»Je später der Abend, desto schöner die Gäste. Ich gehe gleich mal in die Küche und warne Mrs Brogan vor, dass sie zwei weitere Essen zubereiten soll. Das hört sie zwar bestimmt nicht gern, aber gehorchen muss sie schließlich doch.«
Paula kam es so vor, als ob es ihm Spaß machte, der Haushälterin Befehle zu erteilen.
»Danke für die Einladung, aber wir können nicht bleiben«, sagte Tweed. »Wir haben heute noch etwas vor.«
»Oh, wie schade. Aber lassen Sie sich nicht aufhalten. Vielleicht klappt es ja ein andermal.«
Lucinda umarmte sie zum Abschied und begleitete sie, nachdem Tweed ihr mehrmals versichert hatte, dass sie eine Fahrgelegenheit hätten, noch hinaus auf die Terrasse. Erst als sie außer Hörweite waren, wandte Paula sich an Tweed.
»Also, was ist passiert? Vorhin, als Sie von dem Berg zurückkamen, waren Sie so weiß wie eine Wand. Was ist dort oben vor sich gegangen? Und warum war Ihr Ärmel so schmutzig? Nun reden Sie schon. Ich mache mir echt Sorgen um Sie.«
»Ich habe dort oben ein paar sehr wichtige Erkenntnisse gewonnen. Im Glockenturm habe ich Licht gesehen, und eines der Cottages war ebenfalls erleuchtet. Wir werden uns dort erst einmal umschauen, bevor wir zu unserem
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