Skelett
der City liegt.«
»Da haben wir wahrscheinlich die Erklärung«, sagte Tweed. »Weil er sie so oft gefahren ist, muss ihm die Strecke in Fleisch und Blut übergegangen sein. So wie der Weg von Post Lacey bis hierher.«
»Richtig. Er ist das Stück bis zum Pub immer zu Fuß gegangen, um etwas Bewegung zu haben. Dort ist er dann in seinen Wagen gestiegen und nach London gefahren.«
»Kein Wunder, dass er sich trotz der Amnesie an diesen Weg erinnert hat.«
»Trotzdem kommt mir einiges ziemlich seltsam vor. Vielleicht können wir uns nach dem Essen noch mal zusammensetzen und darüber reden.«
»Selbstverständlich. Darf ich fragen, was für einen Job Michael genau hat?«
»Er ist einer von drei internationalen Verkaufsleitern bei der Gantia-Supermarktkette. Und zwar bei weitem der beste und erfolgreichste von allen. Er ist oft wochen- und monatelang auf Reisen, und dann hören wir lange nichts von ihm. Michael ist ein alter Geheimniskrämer, der immer für eine Überraschung gut ist. Ach, ich bin übrigens der Geschäftsführer von Gantia.«
Jemand hämmerte laut an die Tür, und Mrs Brogan verkündete mit ihrer dunklen Stimme: »Das Essen ist fertig. Ich rufe jetzt Michael herunter.«
»Da bin ich aber gespannt, ob er kommt«, sagte Paula, die sich damit zum ersten Mal in diesem Gespräch zu Wort meldete.
Larry trank seinen restlichen Scotch in einem Zug aus. »Den habe ich jetzt gebraucht. Wenn mein Onkel das wüsste, wäre er bestimmt entsetzt.«
»Ihr Onkel?«, sagte Tweed.
»Drago Volkanian. Ich selbst habe meinen Namen ganz offiziell in Voles ändern lassen. Wenn man in England Geschäfte machen will, steht einem ein ausländisch klingender Name wie Volkanian nur im Weg. Mein Vater war natürlich wie sein Bruder auch Armenier, aber meine Mutter war Engländerin.« Er lächelte. »Haben Sie eigentlich erkannt, dass Michael mein jüngerer Bruder ist? Momentan ist er allerdings so blass, dass man es ihm nicht ansieht. Ich frage mich, woher diese schreckliche Blässe nur kommt. Ist er ernsthaft krank?«
»Ich denke mal, dass Mrs Ashton, seine Psychiaterin, ihn von einem Arzt gründlich hat durchchecken lassen«, antwortete Tweed ausweichend.
»Sie meinen doch nicht etwa Bella Ashton, die bekannte Psychiaterin?«
»Doch, genau die. Kennen Sie sie?«
»Flüchtig.« Larry stand auf. »Wenn Sie nichts dagegen haben, begeben wir uns jetzt lieber ins Esszimmer, bevor Mrs Brogan noch rabiat wird.«
Beim Esszimmer handelte es sich um einen großen Raum mit holzgetäfelten Wänden, der von alten Wandlampen in ein gemütlich warmes Licht getaucht wurde. Vor einem großen offenen Kamin, in dem ein munteres Holzfeuer prasselte, stand Mrs Brogan abwartend mit in die Seite gestemmten Armen. Larry wies seinen Gästen ihre Plätze zu und ging dann hinüber zu der Haushälterin.
»Mrs Brogan, Michael hat sein Gedächtnis verloren«, sagte er. »Er spricht nicht mehr.«
»Hat der denn jemals ein Gedächtnis gehabt?«, entgegnete Mrs Brogan höhnisch.
»Lassen Sie Ihre Witze.« Larry packte sie am Arm und zischte: »Sprechen Sie ihn vorerst auf keinen Fall an, haben Sie verstanden? Ich meine es ernst.«
»Ist ja schon gut.« Die Haushälterin wand sich aus seinem Griff. »Sie wissen genau, dass ich es nicht leiden kann, wenn man mich anfasst.« Sie schaute hinüber zu Paula und zwinkerte ihr zu. »Michael schmollt, der dumme Junge«, sagte sie dann und verschwand durch die Tür, die wohl zur Küche führte.
Als Mrs Brogan zurückkam, hatten Voles und seine Gäste bereits Platz genommen. Mit verblüffender Geschwindigkeit huschte die Haushälterin zu dem noch unbesetzten Platz und legte das Messer nach links und die Gabel nach rechts, wobei sie Paula abermals zuzwinkerte. Ob Michael bemerken würde, dass sie das Besteck vertauscht hatte? In diesem Moment betrat Michael auch schon das Esszimmer. Er trug jetzt einen schicken Anzug. Während Paula ihn neugierig betrachtete, trug Mrs Brogan ein großes Tablett mit Suppentellern herein.
Michael starrte auf seinen Platz. Ohne zu zögern, legte er das Besteck auf die jeweils richtige Seite des Platzdeckchens zurück.
»Es gibt Pilzsuppe«, sagte Mrs Brogan, während sie die Teller verteilte. »Wer sie nicht mag, kann sie ruhig stehen lassen und auf den Hauptgang warten. Wir legen hier keinen großen Wert auf Förmlichkeiten.«
Michael wartete, bis alle ihren Teller hatten und Paula nach ihrem Besteck griff. Dann fing er an, die Suppe in sich hineinzulöffeln.
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