Skelett
Lucinda.‹«
»Ausgerechnet Lee«, sagte Paula auf der Rückfahrt ins Büro zu Tweed. »Das kann sowohl ein Männer- als auch ein Frauenname sein.«
»So ist es.«
Tweed hatte den Beutel mit dem Ring in seiner Tasche stecken. Außerdem hatte Saafeld ihm zwei Berichte mitgegeben, in denen er seine bisherigen Befunde über die Leiche im Schneemann und die im Grubenschacht zusammengefasst hatte.
»Vergessen Sie nicht, dass Sie morgen eine Verabredung mit Lucinda haben«, sagte Paula schmunzelnd. »Ich schätze mal, für die müssen Sie Ihren eleganten grauen Anzug anziehen, darunter tut sie es nicht.«
»Und Sie sollten zusehen, dass Sie pünktlich zu Ihrem Rendezvous mit Keith Kent kommen«, flachste Tweed zurück. »Keith mag es gar nicht, wenn jemand zu spät kommt.«
»Das ist mir nicht entgangen. Apropos Keith Kent: Ich habe es noch nie erlebt, dass er sich so lange Zeit für die Überprüfung eines Sachverhalts ausbedungen hat. Die arme Christine muss als Wirtschaftsprüferin ja eine richtige Koryphäe gewesen sein.«
»Schauen wir mal, was Keith herausfindet«, sagte Tweed.
»Aber wissen Sie, was mir momentan weitaus mehr Sorgen bereitet? Woher wusste Abel Gallagher, dass wir in Abbey Grange waren? Das beunruhigt mich. Ich habe Newman gebeten, den Mann einmal näher unter die Lupe nehmen.«
»Ich schätze, dass Gallagher in Abbey Grange einen Spitzel hat«, sagte Paula. »Stellt sich nur die Frage, wer das ist.«
Bald darauf kamen Paula und Tweed im Büro an. Newman wartete ab, bis Tweed hinter seinem Schreibtisch saß, und legte ihm dann sofort die aufgeschlagene Zeitung hin.
»Sie kennen doch Drew Franklin, der für die Daily Nation schreibt, oder?«
»Selbstverständlich kennen wir ihn. Er ist fast so klug wie Sie«, feixte Paula.
»Die Sache ist ernst«, sagte Newman. »Sie haben sicherlich schon von den Gerüchten um Angora gehört. Das ist dieser Staat in Nordafrika, in dem es vor kurzem zu einem Putsch gekommen ist. Washington ist besorgt, weil dort jetzt eine fundamentalistisch-islamistische Regierung die Macht übernommen hat. Unsere Regierung spielt die Gefahr natürlich wie immer herunter. Aber lesen Sie das erst einmal.«
LONDON ZIEL VON ANGORAS RAKETEN?
Gut informierten Quellen zufolge soll das Regime in Angora hundert Mittelstreckenraketen aus Nordkorea bezogen haben, die eine Reichweite von 4000 Kilometern aufweisen. Damit könnten die Raketen, die zurzeit auf dem Weg von Nordkorea nach Angora sein sollen, auch europäische Ziele wie Paris, Berlin oder London erreichen. Die britische Regierung verhält sich abwartend.
Tweed las den Artikel zwei Mal, bevor er ans Fenster trat und mit nachdenklichem Gesicht hinaussah. Es ging ihm allerdings nicht um den Ausblick über den Regent’s Park, im Geiste ließ er noch einmal alle Ereignisse Revue passieren, deren Zeuge er seit seiner ersten Begegnung mit Michael geworden war: die merkwürdige Fahrt ins Dartmoor; die Menschen, die er dort getroffen hatte; das Skelett im Schneemann und die Leiche im Grubenschacht; der Schuss, der auf der Heimfahrt auf ihn abgefeuert worden war. Gantia. Lucinda. Anne Barton. Die vier Namen auf der Liste, die Buchanan in Michaels Tasche gefunden hatte. Nach einer Weile drehte Tweed sich wieder um.
»Mein Gefühl sagt mir, dass die ganze Sache mit den Morden weitaus komplizierter und düsterer ist, als wir das bisher angenommen haben. Hier sind ebenso einflussreiche wie unsichtbare Kräfte am Werk. Wir müssen das Rätsel so schnell wie möglich lösen, bevor sich die Dinge noch überschlagen und dieser Fall sich zu einer unvorstellbaren Katastrophe auswächst.«
14
Es war bereits dunkel, als Marler ins Büro zurückkehrte. Er legte eine messingfarbene Patronenhülse auf Tweeds Schreibtisch.
»Ich weiß jetzt, wer versucht hat, Sie auf der A303 zu töten«, sagte Marler beiläufig. »Nur ein einziger Mensch in Europa verwendet solche Patronen: ein französischer Killer, der Charmian genannt wird, lässt sie sich speziell anfertigen. Viel weiß man nicht über diesen Mann, nur dass er teuer, sehr teuer sein soll.«
»Sind Sie sich da sicher?«, fragte Tweed.
»Ich bin mir absolut sicher. Ich kenne sogar den betreffenden Büchsenmacher in Paris. Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war er so betrunken, dass ihm der Name Charmian entschlüpft ist, während er schnell ein paar von diesen Patronen in einer Schublade verschwinden lassen wollte. Aber das muss unter uns bleiben. Wenn Charmian
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