Skelett
Kommen Sie herein.« Sie ging zurück zur Tür und schloss sie wieder auf.
Das kann ja heiter werden, dachte Paula. Lucinda schien nicht gerade bester Laune zu sein. In der Wohnung warf sie ihren Motorradhelm so schwungvoll auf einen Sessel, dass er herunterfiel und über den Boden kullerte. Lucinda beachtete ihn nicht. Ohne dazu aufgefordert worden zu sein, schlüpfte Tweed aus seinem Mantel und half Paula anschließend aus dem ihren. Während er die Mäntel an die Garderobe hängte, nahm Lucinda in ihrer Lederkluft hinter ihrem Schreibtisch Platz, steckte eine Zigarette in die lange Spitze und zündete sie an.
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, sich zu uns zu setzen?«, sagte Tweed und deutete auf den Sessel vor dem Sofa. »Ich hätte Sie gern näher bei mir.«
»Ach ja?«, sagte Lucinda mit einem anzüglichen Lächeln.
»Obwohl Paula hier ist?«
Trotzdem stand sie auf und kam zu ihm. Nachdem sie sich in den Sessel hatte fallen lassen, blies sie mit weit in den Nacken gelegtem Kopf Rauchkringel in die Luft.
»Ich bin irgendwie froh, dass Sie gekommen sind«, hauchte sie dann mit ihrer sanften, verführerischen Stimme.
»Wieso?«, fragte Tweed.
»Ich hatte heute schon einen Besucher, und den konnte man nun nicht gerade als freundlich bezeichnen. Es war ein gewisser Abel Gallagher, Leiter der Special Branch. Ein aggressiver und ungehobelter Mensch, der mir im Handumdrehen eine halbe Flasche von meinem besten Single Malt Whisky weggetrunken hat. Ich glaube, ich sollte mir für den Fall, dass ich es weiterhin mit solchen Gästen zu tun habe, ein Vorhängeschloss für meine Hausbar besorgen.«
»Wann war er hier?«, fragte Tweed.
»Ziemlich früh heute Vormittag.«
»Und was wollte er von Ihnen?« Tweed klang jetzt um einiges liebenswürdiger als zuvor.
»Er wollte wissen, welche Fortschritte Sie mit Ihren Ermittlungen gemacht haben. Ich konnte ihm darauf natürlich keine Antwort geben, schließlich gehöre ich nicht zu Ihrem Team. Ich habe ihm gesagt, dass er Sie das selbst fragen soll. Das hat er gar nicht gern gehört. Und dann hat er mir auch noch gedroht.«
»Womit?«
»Er meinte, ich sei bis zum Hals in einen Mordfall verwickelt, und wenn ich mich nicht als kooperativ erweisen würde, müsse er mich in sein Hauptquartier zitieren. Und dann wollte er wissen, wie Lee Charlton verschwunden sei, schließlich hätte ich ihr - seinen Informationen zufolge - sehr nahe gestanden. Wie nahe, sei meiner Fantasie überlassen. Am liebsten hätte ich ihm die Whiskyflasche über den Schädel gehauen, aber dazu war mir der Single Malt dann doch zu schade.«
»Hat er sonst noch etwas gesagt?«
»Er wollte wissen, wo Michael sich aufhält. Ich sagte ihm, ich hätte keine Ahnung. Irgendwann ist mir dann der Geduldsfaden gerissen. Ich bin aufgestanden und habe ihm erklärt, dass ich ihn eigenhändig aus meiner Wohnung befördern würde, wenn er nicht auf der Stelle verschwände. Daraufhin hat er nur blöde gegrinst.«
»Und was ist dann passiert?«
»Ach, dann habe ich ihm eine kleine Lektion in Taekwondo erteilt. Mit einem meiner Tritte muss ich ihn schließlich aus der Wohnung katapultiert haben, auf einmal lag er jedenfalls draußen im Flur auf der Nase. Das war’s dann auch gewesen.«
Tweed beschloss, seine Taktik zu ändern und Lucinda etwas weniger hart anzufassen, als er es ursprünglich vorgehabt hatte.
»Ich war leicht verstimmt, dass Sie mich angelogen haben«, sagte er.
»Wie bitte?« Lucinda schien aus der Fassung zu geraten.
» Ich soll Sie angelogen haben?«
»Als ich Sie nach Lees Verschwinden fragte, sagten Sie, sie sei vielleicht zu einer Freundin nach Richmond geflogen. Aubrey Greystoke hingegen hat mir erzählt, dass seine Frau sich in den USA nicht wohl gefühlt hat und zumindest mit ihm nie in Virginia gewesen ist.« Er hielt kurz inne, räusperte sich und fügte dann hinzu: »Ich muss Ihnen leider noch etwas mitteilen. Lee ist tot. Wir haben ihre Leiche in einem Grubenschacht im Dartmoor gefunden.«
»O mein Gott!« Lucinda sah ihn ungläubig an. »Das ist ja grauenvoll!« Sie stand auf. »Jetzt brauche ich dringend einen Scotch.«
Sie ging zur Bar, goss sich ein Glas ein und setzte sich dann wieder.
»Vielleicht sollten Sie zuerst lieber ein Glas Wasser trinken«, sagte Paula.
»Nein, das brauche ich nicht«, antwortete Lucinda und stürzte das fast bis an den Rand gefüllte Glas in einem Zug hinunter. Dann holte sie tief Luft und sagte: »Aubrey lügt, was seine Amerikareise mit Lee
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