Sklaven der Begierde
dazu?“
Die Antwort auf diese Frage lag Kingsley praktisch auf der Zunge. Zwar war er als Kind nicht regelmäßig zur Kirche gegangen, aber manchmal nahm ihn seine Mutter mit. Es gab eine katholische Kirche in der Nähe, die auch einen englischsprachigen Gottesdienst für ausgewanderte Amerikaner anbot. Sie war nicht so sehr der Religion wegen dahin gegangen, sondern um ab und zu mal wieder heimische Klänge zu hören. Kingsley hatten diese gemeinsamen Stunden sehr gefallen. Seine Schwester, Marie-Laure, war am Wochenende nicht vor dem Mittag aus dem Bett zu kriegen. Sein Vater, ein stolzer Hugenotte, hätte niemals auch nur einen Fuß in eine katholische Kirche gesetzt. Und so hatte Kingsley seine maman ganz für sich allein. Und schon als Kind hatte ihn nichts glücklicher gemacht, als die volle Aufmerksamkeit einer Frau zu genießen. Aber gelegentlich hörte er doch zu, was der Priester da sagte. Und in einer dieser Predigten hatte er etwas aufgeschnappt, das hängen blieb, über all die Jahre. Irgendwas über den Verstand …
Es blieb still im Klassenzimmer. Kingsley nahm seine Bibel und fing an, darin zu blättern. Vielleicht war Gott ja auf seiner Seite und er fand die Stelle, die er suchte. Stearns nahm ebenfalls am Theologieunterricht teil, er saß ganz außen am Fenster, es war der kälteste Platz im Raum. Er war als Erster da gewesen. Er hätte sich direkt vor den Ofen setzen können, aber das machte er nie.
„Keiner weiß es?“ Father Robert drehte sich um und musterte seine Schüler. „Gar keiner?“
Er schaute zu Stearns, der einen Seufzer zu unterdrücken schien.
Als klar war, dass kein anderer das Wort ergreifen würde, sagte er: „Matthäus zweiundzwanzig, Verse siebenunddreißig und achtunddreißig.“
„Sehr gut, Mr Stearns. Können Sie diese Verse für uns rezitieren?“
Rezitieren? Kingsley starrte zu Stearns hinüber, der aussah wie die Verkörperung des perfekten Schülers. Kein einziger Fleck auf der Uniform, kein einziges blondes Haar außer der Reihe. Kingsley hingegen konnte machen, was er wollte, er sah immer zerzaust und unordentlich aus. Father Henry neckte ihn deswegen öfter: Er sähe aus, als sei er gerade erst aus dem Bett gekrochen. Ha. Schön wär’s.
Ohne in seine Bibel zu schauen, legte Stearns los. „Jesus aber sprach zu ihm: ‚Du sollst Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen lieben, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte. Dies ist das vornehmste und größte Gebot.‘“
„Ausgezeichnet, Mr Stearns. Und was haben diese Verse nun mit unserer Diskussion über Herz und Verstand zu tun?“
„Jesus unterscheidet hier zwischen Herz, Seele und Verstand beziehungsweise Gemüt. Es handelt sich also um getrennte Entitäten.“
Getrennte Entitäten? Kingsley kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Wer unterrichtete eigentlich diese Klasse?
„Aber ist das nun der Beweis, dass der Verstand und das Herz und die Seele vollständig unabhängig voneinander existieren und somit nichts miteinander zu tun haben?“ Father Robert fuchtelte mit der Hand, so als könne er seinen zehn Schülern auf diese Weise weiterführende Weisheiten aus den verstockten Mündern herausfischen. Keiner rührte sich.
„Mr Stearns?“
Stearns setzte sich aufrechter hin. „Nicht zwingend. Das erste Konzil von Konstantinopel nutzte das Herrenwort ‚Darum tauft sie im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“ vielmehr als Beweis dafür, dass die Dreifaltigkeit zwar weiterhin aus drei unterschiedlichen Personen besteht, aber gleichzeitig eine Wesenseinheit bildet. Wenn Jesus uns also lehrt, Gott mit unserem Herzen, mit unserer Seele und unserem Gemüt zu lieben, dann sagt er uns damit, dass diese Dinge gleichzeitig drei und eins sind, genau wie der dreieinige Gott.“
„Ausgezeichnet, Mr Stearns. Und jetzt öffnen Sie bitte alle Ihren Katechismus …“
Die Jungen folgten der Anweisung ihres Lehrers. Nur Kingsley konnte den Blick nicht von Stearns abwenden. Draußen vor dem Fenster riss die graue Wolkendecke für einen Moment auf, und ein Sonnenstrahl – so was hatte man seit Tagen nicht mehr gesehen – warf gleißendes Licht ins Klassenzimmer. Kingsley hätte die Wimpernhärchen an Stearns Lidern zählen können, so deutlich waren sie zu erkennen. Und bis die Sonne sich wieder hinter einer Wolke verbarg, hörte er auf zu atmen.
Als sie weg war, holte er tief Luft. Stearns drehte seinen Kopf und begegnete Kingsleys unverfrorenem Blick.
Kingsley wusste, dass er die Augen
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