Sklaven der Begierde
verschlug. Das hier war die längste Unterhaltung, die er seit jenem schrecklichen ersten Tag mit Stearns führte, und er wollte jetzt nicht aufgeben, selbst auf die Gefahr hin, den anderen wütend zu machen. Dann würde er wenigstens noch länger mit ihm sprechen.
„Ach, nichts Besonderes – mir ist eben aufgefallen, dass du im Unterricht kommen und gehen kannst, wie es dir gefällt. Das darf kein anderer Schüler. Du isst niemals mit uns im Speisesaal, obwohl Father Henry gesagt hat, dass Anwesenheitspflicht herrscht. Und an die Schlafenszeit brauchst du dich offenbar auch nicht zu halten. Warum ist das so?“
„Die Regeln sollen dafür sorgen, dass die Schüler Disziplin wahren und ihnen nichts passiert. Die Priester wissen, dass ich lese, wenn ich nach neun Uhr noch auf bin. Wenn ich den Unterricht verlasse, dann deshalb, weil ich etwas anderes zu tun habe. Und ich esse mit Father Aldo in der Küche, weil das das einzige Zeitfenster für meine Portugiesischstunden ist.“
Kingsley schüttelte den Kopf. „Nein, so einfach ist das nicht. Da steckt mehr dahinter. Du genießt hier eine Sonderbehandlung, und ich will wissen, warum das so ist.“
„Ich genieße keine Sonderbehandlung. Ich werde behandelt wie ein Erwachsener. Und das habe ich mir verdient. Benimm dich wie ein Erwachsener, Kingsley, dann kannst du es dir vielleicht auch verdienen.“
Stearns warf ihm einen letzten abschätzigen Blick zu und stürmte die Treppe hinunter.
Kingsley wusste, dass er jetzt am besten in den Unterricht zurückkehren sollte. Zwar wäre er Stearns am liebsten wieder nachgelaufen, vermutete aber, dass der sein Wortkontingent für heute aufgebraucht hatte und nichts mehr sagen würde. Vielleicht morgen. Oder übermorgen. Er würde einfach abwarten und beobachten wie bisher … Ihm war völlig klar, dass er Stearns wütend machte. Das war zwar nicht ganz die Reaktion, die er sich wünschte, aber immerhin besser als nichts.
Normalerweise waren andere Menschen Luft für Stearns. In seiner Welt schien nichts und niemand zu existieren außer ihm selbst. Ihm auf die Nerven zu gehen war der erste Schritt. Der zweite würde sein, mit ihm ins Bett zu gehen …
„King? Was machst du denn hier draußen?“
Kingsley drehte sich um und sah Christian durchs Foyer auf sich zukommen. Sie waren schnell Freunde geworden, sozusagen in Ermangelung anderer Kandidaten. Die Auswahl war nicht gerade groß gewesen. Er und Christian gehörten zu den fünf Jungen auf St. Ignatius, die überhaupt schon mal Erfahrungen mit Mädchen gemacht hatten. Außerdem hatte Christian einen erfreulich dreckigen Sinn für Humor und das schmutzigste Mundwerk der Schule – jedenfalls dann, wenn kein Priester in der Nähe war. Wenn er und Christian und die paar anderen Sexperten Anekdoten über Freundinnen, Blowjobs, eifersüchtige Rivalen und empörte Brüder austauschten, konnten die keuschen Jungfrauen nur staunen und neidisch zu ihnen herüberstarren.
„Stearns“, sagte Kingsley. Er sah Christian nicht an. Er konnte einfach nicht aufhören, die Stufen anzustarren, über die Stearns verschwunden war.
„Oh ja, der macht mich auch wahnsinnig. Aber was kann man gegen so einen schon ausrichten?“
„Du magst ihn nicht?“ Kingsley riss sich jetzt doch vom Anblick der Treppe los.
„Natürlich nicht. Was soll man denn an dem mögen? Er ist klüger als alle Priester zusammen. Die Kleinen machen sich in die Hose, sobald er den Raum betritt. Er spricht mit keinem von uns. In vier Jahren habe ich ihm vielleicht fünf Worte abgerungen.“
Kingsley unterdrückte ein Lächeln. Fünf Worte? Er selbst hatte gerade eine fünfminütige Konversation mit Stearns. Das dürfte so was wie der Schulrekord sein.
„Hier verhalten sich aber auch alle so, als ob sie Angst vor ihm hätten“, gab er zu bedenken. „Vielleicht redet er deshalb so wenig.“
Christian lachte freudlos auf und versetzte ihm einen leichten Hieb auf die Schulter. „Was heißt hier ‚als ob‘? Wir haben wirklich Angst vor ihm.“
„Aber warum? Er wirkt doch ganz …“ Kingsley suchte nach dem passenden Wort. „Harmlos“ war nicht richtig. Stearns wirkte ganz und gar nicht harmlos. „Vernünftig?“
„Kingsley …“, sagte Christian entsetzt und holte dann tief Luft. „Ich vergesse immer wieder, dass du hier neu bist. Es gibt da etwas, das du über deinen Freund Mr Arschloch Stearns wissen solltest.“
„Quoi?“ , fragte Kingsley. „Was?“
„Es heißt, dass er an seiner alten
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