Sklaven der Begierde
Er ist ja so ein bisschen …“ Nora trat einen Schritt zurück und stellte mit weit ausholenden Armbewegungen die Duschszene aus „Psycho“ nach.
Wes nickte widerstrebend. „Tja, da kann ich wohl kaum was gegen sagen. Aber eigentlich ist er ein feiner Kerl. Wirklich. Nur eben übertrieben fürsorglich, wenn es um mich und Mom geht.“
„Ein Familienmensch. Davor habe ich Respekt. Mein eigener Vater hätte mich ohne mit der Wimper zu zucken auf dem Marktplatz meistbietend versteigert. Wenn er geglaubt hätte, dass er einen guten Preis für mich kriegen würde.“
„Dad mag dich nur deshalb nicht …“
„Er hasst mich“, unterbrach sie ihn.
„Na schön, er hasst dich nur deshalb, weil er glaubt, dass du mich verletzt hast.“
Nora streichelte seine Wange. Er drehte sein Gesicht und küsste ihre Handfläche.
„Wesley, ich habe dich verletzt.“
Er nickte nur stumm. Sie schlang noch einmal ihre Arme um ihn und hielt ihn ganz fest, so lange, bis er vergessen hatte, warum sie ihn umarmte. Er küsste ihr Haar, atmete ihren Duft ein – Orchideen. Nora roch immer nach Orchideen … Eines Tages würde er bestimmt daran denken, sie zu fragen, warum das so war.
„Ich sollte jetzt gehen.“ Sie ließ ihn los.
„Was?“
„Ich nehme mir ein Zimmer irgendwo in der Stadt. Ich will dir nicht noch mehr Ärger machen. Und wer Nora Sutherlin im Haus hat, der kriegt Ärger. Ein Naturgesetz.“
Wesley schüttelte den Kopf und nahm ihre Hand. „Seit wann kennst du dich mit Naturgesetzen aus? Nein, darauf will ich keine Antwort. Hör mir einfach zu – du machst mir keinen Ärger. Wir verbringen einfach nur Zeit miteinander, ganz entspannt, bis wir herausgefunden haben, wie es mit uns weitergeht. Probleme müssen jetzt mal draußen bleiben, hast du verstanden?“
Nora seufzte und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Eine Woche. Gib mir wenigstens eine Woche“, bat Wesley. „Wenn die Situation mit meinem Vater dann immer noch so unerträglich ist, gehen wir zurück nach Connecticut. Einverstanden?“
Er schaute sie erwartungsvoll an. Sie schloss die Augen und atmete tief ein und aus. Nora Sutherlin war die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Sogar jetzt, nachdem sie den ganzen Tag am Steuer gesessen hatte und nichts Schickeres trug als Jeans und ein weißes T-Shirt – das sich eng an diese Wahnsinnsbrüste schmiegte, die ihn in seinen Tag- und Nachtträumen verfolgten –, konnte ihr keine andere das Wasser reichen. Ihr dickes schwarzes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, ihr Lidstrich war verschmiert und ihr Lippenstift fast verschwunden, und sie war immer noch umwerfend … Und unter dieser äußeren Erscheinung, die ihn schier verrückt machte, verbargen sich ein messerscharfer Verstand, ein unwiderstehlicher Sinn für Humor und eine innere Stärke, die niemand zerstören konnte. Nicht mal Søren.
Oh, verdammt noch mal. Es gab kein anderes Wort für Nora Sutherlin. Verdammt .
„Einverstanden“, sagte sie und öffnete die Augen. „Eine Woche.“
„Gut. Glaubst du, du kannst dich eine Woche lang benehmen?“
„Vermutlich nicht. Aber ich werde es versuchen. Dir zuliebe.“
„Danke.“
„Keine Ursache.“ Nora ging zu ihrem Auto. „Ich meine, was soll schon passieren? Eine Woche – so lange werde ich es schon schaffen, nicht in Schwierigkeiten zu geraten … oder?“
NORDEN
DIE VERGANGENHEIT
Die nächsten zwei Wochen machte Kingsley nichts anderes, als Stearns zu beobachten. Oh, er ging zum Unterricht, er nahm seine Mahlzeiten ein, er tat so, als ob er sich mit den anderen Jungen anfreundete … aber das alles war bloß eine List, eine Tarnung, eine Täuschung, um von dem abzulenken, was ihn wirklich umtrieb. Er spielte Lehrern wie Mitschülern den Heiligen vor, um sein schlechtes Benehmen vom ersten Tag wiedergutzumachen, aber er lebte allein für Stearns … allein für die Sünde.
Leider spielte Stearns da nicht mit.
„Aristoteles“, verkündete Father Robert und traktierte die quietschende Tafel mit einem abgebrochenen Stück Kreide, „hatte eine sehr ungewöhnliche Vorstellung vom Verstand. Er glaubte, dass das Herz der Ort des Bewusstseins sei. Das Gehirn war in diesem Modell nur eine Art Kühlvorrichtung, zuständig für die Belüftung des Bluts. Interessanterweise hielten auch die alten Ägypter das Hirn für ein nutzloses Organ, das Herz hingegen für den Sitz von Seele und Geist. Die moderne Wissenschaft lehrt uns, dass das falsch ist. Aber was sagt Jesus
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