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Sklaven der Begierde

Sklaven der Begierde

Titel: Sklaven der Begierde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tiffany Reisz
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senken sollte. Das verlangte die Höflichkeit. Und die Diskretion verlangte es ebenfalls. Und wenn er seinen Mitschüler weiterhin so dreist anstarrte, würden es ziemlich sicher auch Father Robert und Stearns verlangen.
    Aber er konnte seinen Blick nicht losreißen, genau so wenig, wie er wegschauen könnte, wenn er sich plötzlich Angesicht zu Angesicht mit Gott wiedergefunden hätte.
    Als ein anderer Mitschüler anfing, aus dem Katechismus vorzulesen, erhob Stearns sich und verließ ohne um Erlaubnis zu bitten das Klassenzimmer. Father Robert unternahm keinen Versuch, ihn zurückzuhalten; er machte einfach weiter, als sei nichts geschehen. Kingsleys Herz klopfte wie wild, seine Hände verkrampften sich.
    Zehn Sekunden kämpfte er mit sich selbst, dann sprang er auf und folgte Stearns.
    Im Flur blickte er sich hektisch um. Keine Spur von Stearns. In welche Richtung war er gegangen? Nach vorn? Nach hinten? Die Treppe hoch?
    Er hatte nicht die leiseste Ahnung, was in ihn gefahren war, was dieses unbezwingbare Bedürfnis in ihm ausgelöst hatte, Stearns nachzulaufen. Aber jetzt war es passiert, er hatte den Unterricht unerlaubt verlassen. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
    Plötzlich hörte er Schritte auf dem Kachelboden, der Klack-klack-Klang wurde von den Betonwänden zurückgeworfen und dadurch lauter. Er rannte auf das Geräusch zu und fand Stearns im Foyer zwischen dem dritten und vierten Stockwerk. Er ging mit schnellen Schritten auf und ab, in der Hand hielt er eine kleine Bibel.
    Als er Kingsley bemerkte, blieb er stehen und sah ihn an. Er sagte nichts. Kingsley öffnete den Mund. Er brachte kein Wort heraus.
    „Sie sind rausgegangen“, stammelte er endlich, wieder ins Französische fallend. Vous avez quitté .
    Vous ? Sie waren Gleichgestellte, beide Schüler derselben Schule. Warum hatte er automatisch vous benutzt statt des vertraulicheren tu?
    „Tu as quitté aussi.“ Du bist auch rausgegangen .
    Tu . Nicht vous .
    „Ich bin dir nachgelaufen.“ Er fühlte sich wie ein Trottel, als er das Offensichtliche noch mal bestätigte, aber ihm fiel nichts anderes ein. Es gab keinen anderen Grund. Keine Erklärung. Er war hier, weil er hier war. „Warum hast du den Unterricht verlassen?“
    Stearns warf ihm einen ungnädigen Blick zu und fing wieder an, auf und ab zu gehen.
    „Das darf ich jederzeit.“
    „Ich weiß. Du darfst hier ohnehin alles tun, was du willst. Aber das ist keine Antwort auf meine Frage.“ Kingsley wechselte wieder ins Französische. „Pourquoi?“
    „Du hast mich angestarrt.“
    Kingsley erinnerte sich, einmal etwas über Vorsicht und Tapferkeit gehört zu haben, irgendein Spruch, seine Mutter hatte das gesagt, auf Englisch. Er hatte den genauen Wortlaut vergessen, aber das spielte jetzt auch keine Rolle mehr. Er hatte längst jegliche Vorsicht hinter sich gelassen, und Tapferkeit ging ihm ebenfalls am Arsch vorbei.
    „Oui . Das habe ich.“
    „Warum starrst du mich ständig an?“
    „Warum interessiert dich das überhaupt?“
    Stearns schwieg ein paar Sekunden. Dann sah er Kingsley in die Augen. „Ich weiß es nicht. Aber es interessiert mich.“
    Wenn ihm in diesem Augenblick jemand eine Million Dollar geboten hätte, um Stearns Aussage ungeschehen zu machen, hätte Kingsley gesagt: „Behalte das Geld.“
    „Du solltest wohl besser zurück in den Unterricht gehen.“ Stearns wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Bibel zu.
    Kingsley verdrehte entnervt die Augen. „Macht es dir eigentlich überhaupt nichts aus, dass Father Robert dich so behandelt?“ Er verschränkte die Arme und lehnte sich an die Wand.
    Stearns drehte sich zu ihm um.
    „Wie behandelt er mich denn?“
    Kingsley zuckte mit den Schultern. „Schwer zu beschreiben. Du machst die ganze Arbeit für ihn. Kein anderer antwortet jemals auf seine Fragen, nur du. Er lässt dich Bibelverse rezitieren. Rezitieren. Nicht vorlesen. Du tanzt nach seiner Pfeife.“
    Stearns sah ihn schweigend an, marschierte dann wieder los und öffnete seine Bibel.
    „Er lässt mich nicht nach seiner Pfeife tanzen. Father Robert kann einfach nur schwer ertragen, wenn keiner was sagt. Es gibt hier niemanden, der mich dazu bringen kann, etwas zu tun, das ich nicht tun will.“
    „Das habe ich gemerkt.“
    „Und was soll das jetzt wieder heißen?“ Stearns starrte ihn aus seinen stahlgrauen Augen an. Irgendetwas an diesem Blick ließ seinen Mut dahinschwinden. Er atmete schnell durch, um weiterzureden, bevor es ihm völlig die Sprache

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