Sklaven der Begierde
habe ich nicht den geringsten Zweifel. Wenn da nicht diese eine Sache passiert wäre.“
Wesley hörte auf, in den Nachthimmel zu starren, und sah sie an.
„Was?“, flüsterte er.
Nora lächelte.
„Ich habe dich gesehen.“
Endlich hatte es ihm die Sprache verschlagen.
„Ich habe dich gesehen, Wesley. Und ich habe es einfach vergessen. Ich habe tatsächlich vergessen, dass ich zu ihm zurückwollte. Es ist mir einfach entfallen. Denn für den Rest des Tages, nach dieser ersten Unterrichtsstunde, konnte ich nur noch an dich denken. An deine großen braunen Augen, an dein Lächeln, an die Art und Weise, wie du mich angeschaut hast, so als ob … als ob …“
„Als ob ich nie im Leben so etwas wie dich gesehen hätte und mir nicht vorstellen könnte, jemals wieder so etwas wie dich zu sehen. Sodass ich es mir also absolut nicht leisten konnte, meine Augen auch nur eine Sekunde von dir abzuwenden.“
„Ja.“ Nora seufzte. „Genau so. Und ich habe mich auch am nächsten Tag nicht daran erinnert, dass ich zu Søren zurückkehren wollte. Oder am übernächsten Tag. Ich hatte ja dich. Erinnerst du dich noch an all diese Treffen in der Cafeteria in Yorke? An die Blicke, die uns zugeworfen wurden?“
„Die anderen konnten einfach nicht fassen, dass ich mit meiner scharfen Schreibwerkstatt-Lehrerin zu Mittag aß und meine Bibel dabeihatte.“
„Wir hatten damals sehr spannende Diskussionen. Wobei ich immer noch bedauere, dass es mir nicht gelungen ist, dich von der Befreiungstheologie zu überzeugen.“
„Dazu bin ich zu methodistisch, tut mir leid.“
Nora lachte. Aber dann wurde sie wieder ernst. „Du sagtest, dass du Yorke wohl demnächst verlassen müsstest. Das hat mich zu Tode erschreckt. Deshalb habe ich dich gefragt, ob du bei mir einziehen willst.“
„Ich habe das damals nur gesagt, weil ich hoffte, dass du mich vermissen würdest. Die Weihnachtsferien standen vor der Tür, und ich wollte eigentlich nicht mehr als deine Telefonnummer.“
„Na ja, die hast du ja dann gekriegt, und noch so einiges obendrauf.“
„Mehr als ich mir jemals erträumt hätte.“
„Aber trotzdem nicht genug?“ Sie suchte seinen Blick und bemühte sich um ein Lächeln.
Wesley legte für einen kurzen Augenblick seine Stirn an ihre. „Das könnte eine der Fragen sein, die du lieber nicht stellen solltest.“
„Wes, ich …“ Aber sie hatte einfach keine Worte mehr. Jedenfalls keine, die das Loch heilen könnten, das sie in sein Herz gebohrt hatte.
„Ich gehe ins Bett.“ Wesley trat einen Schritt zurück, weg von ihr. „Es ist schon spät. Tut mir leid, dass ich dir hier runtergelockt habe. Wir hätten weiter oben im Norden bleiben sollen. Ich wollte dir einfach nur meine Welt zeigen. Aber die ist gar nicht so hübsch, wie ich immer dachte.“
„Du bist da. Und deshalb ist es schön hier.“
Wesley sagte nichts und hob seine Augen erneut zum Himmel. Nora streckte die Hand nach ihm aus, hielt aber inne, ohne ihn zu berühren. Seltsam, während der Monate ihrer Trennung hatte sie sich ihm näher gefühlt als in diesem Moment. Obwohl er nur dreißig Zentimeter entfernt stand.
Sie trat nun ebenfalls einen Schritt zurück. Und dann noch einen. Morgen … morgen würde ein besserer Tag sein. Heute Nacht würden sie schlafen und den Kopf freibekommen. Hoffentlich.
Drei Tage war sie jetzt hier und musste sich eingestehen, dass es zwischen ihnen wohl nie wieder so sein würde, wie es einmal war.
„Nora?“
Sie wirbelte zu ihm herum. Er sah ihr direkt ins Gesicht. Seine Augen leuchteten so hell wie die Kerzen im Pavillon.
„Was ist denn, Wes?“
„Ich sollte dich verabscheuen … aber ich tue es nicht.“
Nora verstand sofort, was in seinem Blick lag. Sie hatte es schon in so vielen Männeraugen gesehen. Die Hitze, der Hunger, die Sehnsucht – aber noch niemals war dieses Verlangen so süß, so sanft und so schön gewesen.
Nein, es würde zwischen ihnen nie wieder so sein, wie es einmal war. Aber vielleicht besser.
Seit drei Jahren liebte und begehrte Wesley sie. Er hatte sich sogar für sie aufgespart.
Drei Jahre – aber jetzt würde sie ihn keinen Tag mehr länger warten lassen.
NORDEN
DIE VERGANGENHEIT
Ein Tag verging. Dann der zweite. Am dritten Tag dachte Kingsley, er müsse sterben, wenn Søren sich ihm nicht in irgendeiner Form annäherte. Eine für ihn völlig neue Position. Bislang war immer er der Verführer, der Initiator gewesen. Er wählte ein Mädchen für sich aus und umwarb sie
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